Antoni Graf Sobański (1898–1941)
Antoni Graf Sobański wurde am 1. Mai 1898 in Obodówka im russisch annektierten Teil Polens geboren. Er stammte aus einer polnischen Landadelsfamilie und war das jüngste von drei Kindern. 1905 zog die Familie nach Warschau um. Zwischen 1917 und 1925 studierte er an unterschiedlichen Universitäten verschiedene Fachrichtungen, ohne jedoch einen Abschluss zu erlangen. Zur gleichen Zeit erbte Sobanski von seinem Onkels ein Schloss in Guzów und eine Zuckerfabrik, so dass er seine Zeit zwischen den Verpflichtungen auf seinem Gut und dem gesellschaftlichen Leben in Warschau aufteilte. In Warschau war Antoni Graf Sobański nicht irgendjemand. Er war eine der schillerndsten Persönlichkeiten der guten Gesellschaft und gleichzeitig ein sehr geschätzter Journalist, gern gelesener Essayist und viel versprechender Literat. Seine Freunde nannten ihn „Tonio“. Die ihn so nannten, waren keine Unbekannten, sondern Diplomaten, Wissenschaftler und Bohemiens. Jarosław Iwaszkiewicz und Witold Gombrowicz sprachen über ihn in höchsten Tönen der Bewunderung, er wäre eloquent, humorvoll, ironisch, witzig und kultiviert. Graf Sobański war ein aufgeklärter Europäer, dem die nationalistischen und antisemitischen Tendenzen auch in der polnischen Gesellschaft bewusst und zuwider waren. Er beherrschte sechs europäische Sprachen in Wort und Schrift, reiste viel, lebte in London, Paris, Berlin, Wien und Petersburg.
Im Januar 1933 wurde Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt. Am 5. März 1933 fanden die Reichstagswahlen statt, bei denen die NSDAP nur knapp an der absoluten Mehrheit scheiterte. Unter diesen politischen Vorzeichen entschied die Redaktion der polnischen Zeitschrift „Wiadomości Literackie“ (Literarische Nachrichten), einen Korrespondenten nach Berlin zu schicken, um Informationen aus erster Hand über das »Dritte Reich« zu liefern. Die Wahl fiel auf Sobański, der für diese Mission geeignet erschien, da er Freunde in Berlin hatte und dort fast zuhause war. Bereits im April 1933 fuhr Graf Sobański nach Berlin und begann, seine Beobachtungen aufzuschreiben, die bis heute ein wichtiges Dokument über den Zustand der deutschen Gesellschaft in den Anfängen des Nazi-Regimes darstellen und das Gesamtbild mehr als nur ergänzen. Sobański war ein scharfsinniger Beobachter mit objektivem Anspruch. Er ging sehr gewissenhaft mit seiner Arbeit um. Er war neugierig auf alles, was er sehen oder hören konnte, und je unerklärbarer ihm etwas erschien, umso mehr wollte er es verstehen. Er sprach mit unzähligen Menschen, las Zeitungen, zählte darin sogar die Bilder mit nationalistischen Motiven, er lief unermüdlich durch die Stadt und analysierte selbst das Theater- und Kinoprogramm. All seine Eindrücke verarbeitete er in seinen Reportagen, die in der „Wiadomości Literackie“ abgedruckt wurden und sich großen Interesses bei den Lesern erfreuten. 1933 erschienen insgesamt acht Reportagen. Nach seinen späteren Reisen nach Danzig und Nürnberg erschienen 1936 weitere fünf Reiseberichte. In ihrer nüchternen Art sind sie heute noch eine scharfe Analyse der deutschen Gesellschaft im Hinblick auf die Entwicklung totalitärer Systeme.
2005 entdeckte die literarische Welt die Reportagen von Graf Sobański neu. Sie erschienen in Buchform unter dem Titel „Cywil w Berlinie“ (Ein Zivilist in Berlin). Der Titel ist treffend, denn Sobański beschreibt Berlin als „eine Stadt der Uniformierten“, in der selbst die Arbeitslosen eine Uniform trügen. Weniger gut getroffen ist der Titel der deutschen Ausgabe: „Nachrichten aus Berlin 1933-36“, dennoch ist sie ein Glücksfall für den deutschsprachigen Leser. Die deutsche Ausgabe erschien 2007.
Antoni Graf Sobański hielt den Krieg nicht für wahrscheinlich. Zu sehr glaubte er an das Humane im Menschen. Als der Zweite Weltkrieg dann doch mit dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 ausbricht, flieht Sobański über Südeuropa nach London. Das Kriegsende wird er jedoch nicht erleben. 1941 stirbt er in London an einer Lungenkrankheit.
Adam Gusowski, Juni 2014