Vinaver, Chemjo
Vinaver, Chemjo (bis 1938 Chemina Winawer, eigentlich Nechemia Winawer), polnisch-jüdischer Chorleiter, Komponist und Musikwissenschaftler. 1920-25 Privatstudium in Berlin. Ab 1925 Chorleiter der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. 1933 Gründer des Männerchors Hanigun; Aufführungen in ganz Deutschland und Europa. 1935-38 Kolumnist der Berliner Jüdischen Rundschau. 1937/38 Aufführungen großer Chor- und Orchesterwerke in Berliner Synagogen. *10.7.1900 Warschau, †16.12.1973 Jerusalem. Sohn von Abraham David Winawer und seiner Frau Rachel, geborene Rosenfeld; Nachfahre des chassidischen Rabbiners Israel Yitzhak (Isaak) Kalisz/Kalisch (1779-1848) aus Warka. Früh lernt er chassidische Musiktraditionen kennen. 1916-20 studiert er in Warschau. Anschließend geht er nach Berlin und nimmt Unterricht im Dirigieren bei dem Chorleiter und Dirigenten Hugo Rüdel (1868-1934) und dem Chorleiter und Komponisten Siegfried Ochs (1858-1929). Ab 1925 ist er als Chorleiter beim Berliner Rundfunk tätig. 1925 wird er Leiter des Chors der Synagoge Friedenstempel in Halensee, mit dem er für die Schallplatten-Firma Odeon Werke des jüdischen Komponisten Louis Lewandowski (1821-1894) und eigene Kompositionen einspielt. Schließlich wird er Chorleiter für liturgische Musik der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. 1928 leitet er vorübergehend in Jerusalem das russisch-jüdische Habimah-Theater, von dem sich ein Teil des Ensembles in Palästina niedergelassen hat. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten gründet W. 1933 den a capella singenden Männerchor Hanigun, dessen Mitglieder aufgrund ihrer jüdischen Herkunft aus deutschen Opernhäusern entlassen worden sind. „Das Repertoire von Hanigun umfasste synagogale Chormusik ebenso wie jüdische Volksmusik, darunter auch Lieder palästinensischer, jemenitischer und spaniolischer Provenienz. Von der Kritik wurde die Virtuosität des Chors meist hoch gelobt.“ (Sophie Fetthauer) Der Chor konzertiert in der Synagoge Prinzregentenstraße in Berlin-Wilmersdorf, im Rahmen des Jüdischen Kulturbunds in verschiedenen deutschen Städten sowie 1933/34 während einer 18-monatigen Tournee in der Tschechoslowakei, Österreich, Jugoslawien, Palästina und Budapest. 1937/38 führt W. große Chor- und Orchesterwerke in Berliner Synagogen auf. 1938 heiratet er die zuvor geschiedene, aus Galizien stammende Dichterin Mascha Kaléko (1907-1975). Neben seiner Tätigkeit als Chorleiter unterrichtet er am Lehrerseminar der 1933 gegründeten Reichsvertretung der deutschen Juden. 1935-38 schreibt er eine „Singblatt“ genannte Kolumne für die in Berlin erscheinende Jüdische Rundschau, für die er jeweils Noten zu einer jüdischen Volksweise (siehe Titelbild) und einen Kommentar liefert. Nach der Uraufführung der Oper „Die Chaluzim“ [Die Pioniere in Palästina] von Jacob Weinberg (1879-1956) in der Übersetzung von Kaléko vermutlich in der Synagoge Oranienburger Straße gehen W., Kaléko und der 1936 geborene gemeinsame Sohn über Frankreich in die USA ins Exil. In New York arbeitet V. als Zeitungskritiker, Dirigent der Spanisch-Portugiesischen Synagoge und gründet die aus zehn Sängern bestehenden Vinaver Art Singers, den Vinaver Chorus, einen deutsch-österreichischen Emigranten-Chor, sowie die Vinaver Symphonic Voices. Ab 1939 konzertiert er in der Carnegie Hall, der New York Town Hall und der Times Hall und unternimmt Tourneen durch die USA. Mit dem Vinaver Chorus setzt „er sich wiederum für ein breites Spektrum jüdischer Musik ein, wozu synagogale Kompositionen, die Musik der Chassiden und Kompositionen israelischer Komponisten zählten. Außerdem führte er auch Vertonungen von Bibeltexten von Palestrina, Josquin Desprez, Salomone Rossi, Franz Schubert, Ralph Vaughan-Williams, Lazare Saminsky, David Diamond und anderen auf.“ (S. Fetthauer) V. ist Mitglied im Vorstand verschiedener Vereinigungen für jüdische Musik. 1955 unterrichtet er an der School of Sacred Music des Hebrew Union College in New York. 1959 übersiedeln Kaléko und V. nach Jerusalem, wo dieser seine Forschungen über die Musik der Chassiden fortsetzt. 1962 leitet V. in Jerusalem die Uraufführung des Oratoriums „Hagadah schel Pessach“ von Paul Dessau (1894-1979) mit verschiedenen Chören und dem Sinfonieorchester der Rundfunkanstalt Kol Israel. – Als Komponist schafft V. vor allem Chormusik für den Gottesdienst in der Synagoge. 1926 schreibt er die Bühnenmusik für das Stück „Dämon“ (nach „Der Dibbuk“) des russisch-jüdischen Schriftstellers Salomon An-Ski (1863-1920) unter der Regie von Berthold Viertel (1885-1953) und 1939 für eine Aufführung der dramatischen Dichtung „Jeremias“ von Stefan Zweig (1881-1942) durch die Theatre Guild in New York. Nach zahlreichen Artikeln zu Fragen der jüdischen Musik in der deutschen Presse publiziert er 1951-55 in New York eine „Anthology of Jewish Music“ mit religiösen Volksweisen und liturgischen Gesängen mit eigenen Chorsätzen und solchen von Arnold Schönberg (1874-1951). Zahlreiche der publizierten Melodien hat V. selbst in Europa, Palästina und den USA aufgezeichnet und gesammelt. Sein Nachlass befindet sich in der Bibliothek der Jewish National University in Jerusalem.
Eigene Schriften:
Anthology of Jewish Music. With Original Notations and Commentary in English and Hebrew. Sacred Chant and Religious Folk Song of the Eastern European Jews, New York 1955
Anthology of Hassidic Music, posthum herausgegeben von Eliyahu Schleifer, Jerusalem 1985
Literatur:
Fred K. Prieberg: Musik im NS-Staat, Frankfurt am Main 1982
Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933 / International biographical dictionary of Central European emigrés 1933-1945, herausgegeben von Werner Röder und Herbert A. Strauss, München und andere 1983
Verdrängte Musik. Berliner Komponisten im Exil, herausgegeben von Habakuk Traber und Elmar Weingarten, Berlin 1987
Geschlossene Vorstellung. Der Jüdische Kulturbund in Deutschland 1933-1941, herausgegeben von der Akademie der Künste = Reihe Deutsche Vergangenheit, Band 60, Berlin 1992
The Encyclopedia of Hasidism, herausgegeben von Tzvi M. Rabinowicz, Northvale und andere 1996
Vorbei … Dokumentation jüdischen Musiklebens in Berlin 1933-1938, herausgegeben von Horst J. P. Bergmeier, Ejal Jakob Eisler und Rainer Lotz, Hambergen [2001]
Stephan Stompor: Jüdisches Musik- und Theaterleben unter dem NS-Staat = Schriftenreihe des Europäischen Zentrums für Jüdische Musik, 6, herausgegeben von Andor Izsák, Hannover 2001
Jutta Rosenkranz: Mascha Kaléko. Biografie, München 2007
Albrecht Dümling: Der vergessene Pionier. Chemjo Vinaver. Auf der Suche nach den chassidischen Wurzeln, in: musica reanimata-Mitteilungen, 65, Berlin 2008, Seite 1-12
Jascha Nemtsov: Der Zionismus in der Musik. Jüdische Musik und nationale Idee, Wiesbaden 2009
Jascha Nemtsov: Ein „ostjüdischer“ Musiker im Berlin der 1920-30er Jahre. Der Chorleiter und Musikethnologe Chemjo Winawer, in: Kultur und/als Übersetzung. Russisch-deutsche Beziehungen im 20. und 21. Jahrhundert, herausgegeben von Christine Engel und Birgit Menzel, Berlin 2011
Jascha Nemtsov: Doppelt vertrieben. Deutsch-jüdische Komponisten aus dem östlichen Europa in Palästina/Israel, Wiesbaden 2013
Online:
Sophie Fetthauer: Chemjo Vinaver, in: Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit, herausgegeben von Claudia Maurer Zenck und Peter Petersen, Universität Hamburg, 2010, https://www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00003706 (dort Liste zahlreicher Presseartikel von V.)
Ruth Fruchtmann: Mascha Kaléko, auf: haGalil.com, http://www.berlin-judentum.de/frauen/kaleko-1.htm
Winawer, Chemjo, auf: Wirtualny Sztetl, Muzeum Historii Żydów Polskich POLIN, https://sztetl.org.pl/pl/biogramy/4167-winawer-chemjo
(alle Links wurden zuletzt im November 2019 aufgerufen)
Axel Feuß, November 2019