Die Schwarze Madonna von Tschenstochau in Essen-Altendorf
Bei dem Essener Stadtteil Altendorf handelt es sich, jedenfalls auf den ersten Blick, nicht unbedingt um eine christlich geprägte Gegend. Überhaupt genießt das Viertel, glaubt man der Presse, ob seiner sozialen Konflikte und Kriminalität, eher einen problematischen Ruf. Umso größer ist die Überraschung, wenn man die Kirche St. Clemens Maria Hofbauer (1751–1820; Kirche erbaut 1957/58) betritt, die seit 1985 zunächst teilweise, seit 2006 dann in Gänze eine polnischsprachige Gemeinde des Bistums Essen beherbergt. Ein lebendiger Katholizismus begegnet dort allenthalben. Gelangt man in die Kirche, benannt nach einer Gallionsfigur der ‚romantischen‘ katholischen Restauration des 19. Jahrhunderts, fällt sofort ein ganzes Frömmigkeitsensemble auf, das aus einer Darstellung des barmherzigen Jesus, einer Blutreliquie des polnischen Papstes Johannes Paul II. (1978–2005) und – vor allem – der Schwarzen Madonna von Tschenstochau (poln.: Częstochowa) besteht. Das Marienbildnis dient gar als Coverbild des Internetauftritts aller muttersprachlichen Gemeinden im gesamten ‚Ruhrbistum‘. Die Version, die in der Kirche zu bewundern ist, stammt ungefähr aus dem Jahr 2008 und ist die mittlerweile neunte Kopie, die in Essen-Altendorf ihre Heimat gefunden hat. Bei Fronleichnamsprozessionen der Gemeinde ist ihr ein prominenter Platz gewiss.
Eine sakramentale Frömmigkeit
Alle drei genannten Objekte zeugen von einem gelebten Katholizismus mit eindeutig identifizierbaren polnischen Wurzeln. So lässt sich die Darstellung des barmherzigen Jesus mit den charakteristischen zwei Lichtstrahlen, ausgehend vom Herzen Jesu, auf eine Vision der mittlerweile heiliggesprochenen polnischen Ordensschwester Faustyna Kowalska (1905–1938) zurückführen. Johannes Paul II. war der erste Pole auf dem Stuhl Petri und ist in seinem Kampf gegen das kommunistische Regime seines Heimatlandes an der Seite von Solidarność unvergessen. Er bedarf wohl kaum einer weiteren Erläuterung. Die Kopie der Schwarzen Madonna schließlich, in diesem Andachtsdreieck wohl das bedeutendste Objekt, spiegelt den nach wie vor sehr ausgeprägten Nationalkatholizismus Polens. Sie steht im Mittelpunkt vieler Erzählungen und Legenden, etwa der wundersamen Verteidigung des heimischen Klosters von Tschenstochau gegen schwedische Soldaten im Jahr 1655 während des Zweiten Nordischen Krieges (1655–1660/61). An der Kopie in Altendorf gut erkennbar sind auch die Schwerthiebe auf der rechten Wange Mariens. Sie wurden dem Original durch einen Klosterangriff im 15. Jahrhundert zugefügt und blieben auch nach den daraufhin einsetzenden Restaurationsarbeiten an der Schwarzen Madonna bewusst, als Moment der Erinnerung, bestehen. Auch in der Essener Kopie durften sie somit nicht fehlen – überhaupt passt die Schwarze Madonna an die Ruhr. Denn versteht man die Goldene Madonna als ‚Königin‘ des Bistums Essen, so bildet die Schwarze Madonna gewissermaßen das Pendant für polnischsprachige Katholik:innen an der Ruhr; in Polen wurde die Schwarze Madonna im Jahr 1656 zur ,Königin‘ der Nation ernannt. Dabei dürften die Betrachtenden schnell erkennen: Die für den polnischen Katholizismus wohl wichtigste Wallfahrtsreliquie verweist auf mehr als nur die Verehrung Mariens. Die Madonna mit schwarzem Kleid und goldenen Lilien, die ihre Unbeflecktheit ausdrücken, hält das rot gewandete Jesuskind in ihren Händen und verweist so über sich selbst hinaus auf den Sohn Gottes, der wiederum die Heilige Schrift in seiner linken Hand hält und mit seiner rechten Hand die Betrachtenden segnet. Damit entspricht sie der Ikonendarstellung der Hodegetria (gr. „Wegweiserin“).
Der polnische Katholizismus – so der Essener Pater Jerzy Wieczorek SChr (= Societas Christi pro Emigrantibus) – fuße vor allem auf einer Frömmigkeit, die von solchen Segnungen und den Sakramenten lebe. So ist wohl zu erklären, dass die Gemeinde ihre sonntäglichen Gottesdienste in Zeiten von Corona mit bis zu 4.000 Zuschauer:innen teilt. Über die gängigen Streaming-Dienste nehmen so Katholik:innen aus dem In- und Ausland an der Eucharistiefeier in Altendorf teil. Pater Wieczorek von der Gesellschaft Christi für Emigrantenseelsorge, gemeinsam mit einem weiteren Priester und einer Ordensfrau zuständig für die dortige polnische Gemeinde, macht noch auf einen weiteren Aspekt einer solchen sakramentalen Frömmigkeit aufmerksam: die tägliche Beichtgelegenheit, die rege nachgefragt werde. Beichtgespräche von insgesamt zwischen zwei und drei Stunden seien keine Seltenheit. Diese Glaubensformen sowie weitere Aktivitäten, etwa eine Sonntagsschule für Kinder, lassen an Teile eines katholischen Milieus denken, wie es an der Ruhr im 19. und frühen 20. Jahrhundert üblich war: ein dichtes Vereins- und Verbandsnetzwerk, geprägt vom liturgischen Rhythmus des Festkalenders. Während das deutschsprachige katholische Milieu spätestens in den 1960ern erodierte, scheint es in Essen-Altendorf im Jahr 2021 noch sehr aktiv. Doch gab es ‚das‘ katholische Milieu ebenso wenig wie es heute ‚den‘ polnischstämmigen Katholizismus an der Ruhr gibt. Die muttersprachliche Gemeinde, zu der auch Dependancen in Mülheim und Lüdenscheid zählen, beherbergt unterschiedliche Dialekte ebenso wie verschiedene Frömmigkeitstraditionen aus Polen.