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Witkiewicz, Stanisław

Auf der Weide/Na pastwisku, 1875. Öl auf Leinwand, 82 x 122,5 cm, Inv. Nr. MP 100 MNW, Nationalmuseum Warschau/Muzeum Narodowe w Warszawie
Auf der Weide/Na pastwisku, 1875. Öl auf Leinwand, 82 x 122,5 cm, Inv. Nr. MP 100 MNW, Nationalmuseum Warschau/Muzeum Narodowe w Warszawie

Witkiewicz, Stanisław, polnischer Maler, Kunstgewerbler und Kunstpublizist, Mitglied der „Münchner Schule“. 1872-75 Privatstudien in München und mit dem dortigen polnischen Künstlerkreis eng verbunden. 1881/82 erneuter Aufenthalt in München. *21.5.1851 Poszawsze/Pašiaušė, Litauen, †5.9.1915 Lovran, Kroatien. Vater des Schriftstellers und Malers Stanisław Ignacy Witkiewicz („Witkacy“, 1885-1939). Geboren auf dem Grundbesitz der Eltern in Samogitien (Niederlitauen), wächst er mit von der Romantik geprägten patriotischen und religiösen Traditionen auf. Als seine Eltern und die beiden älteren Brüder den Januaraufstand von 1863 unterstützen, fungiert er erst zwölfjährig als Kurier für die Partisanen. Nach Niederschlagung des Aufstands wird die gesamte Familie nach Tomsk deportiert und dort bis 1867 festgehalten. 1868-71 studiert W. als freier Hörer an der Akademie der bildenden Künste in St. Petersburg. 1872 geht er zur Fortsetzung des Studiums nach München, wo er offenbar nicht an der Akademie eingeschrieben wird,* sich jedoch mit den Mitgliedern der polnischen Künstlerkolonie anfreundet, unter anderem mit Aleksander Gierymski (1850-1901), Józef Chełmoński (1849-1914) und Henryk Siemiradzki (1843-1902, alle Mitglieder der „Münchner Schule“), einem Schüler von Karl Theodor von Piloty. Freundschaften sind auch mit den Malern Julian Maszyński (1847-1901) und Jan Owidzki (1852-1913, beide Mitglieder der „Münchner Schule“) belegt. Mit Owidzki teilt sich W. Atelier und Wohnung. In der Anfangsphase soll er Unterricht von dem an der Akademie lehrenden Historienmaler Hermann Anschütz (1802-1880) und von dem Landschaftsmaler Adolf Heinrich Lier (1826-1882) in deren Ateliers erhalten haben (Stępień/Liczbińska 1994). Er lebt in schwierigen materiellen Verhältnissen, leidet Hunger und infiziert sich mit Tuberkulose (Lalewicz/Kossowska 2006). Gleichwohl erlebt er die Münchner Zeit als bedeutende künstlerische Phase und beschreibt die polnische Künstlergruppe um deren Protagonisten Józef Brandt (1841-1915, Mitglied der „Münchner Schule“), dessen historische Sammlungen und polnische Bildsujets als eine für Ausländer märchenhafte Welt, „deren Gestalt, Bewegungen, Taten und Verhaltensweisen, Kleidung und Waffen die Betrachter durch ihre Außergewöhnlichkeit in Erstaunen versetzte.“ Bei den Bildmotiven habe man andernorts derartige Helme, Säbel, Gewänder, solch eine Masse an seltsamen Dingen, malerischen Wirtshäusern, schiefen Strohdächern, matschigen Gräben und verfallenen Mühlen vergebens gesucht (Witkiewicz: Gyrimski 1903, Seite 20). 1875 kehrt er nach Polen zurück und lebt seitdem in Warschau. Im dortigen Hotel Europejski gründet er ein Künstleratelier, das er gemeinsam mit Chełmoński, Adam Chmielowski (1845-1916) und Antoni Piotrowski (1853-1924, alle Mitglieder der „Münchner Schule“) betreibt. Auch Maszyński malt gelegentlich dort. Das Atelier wird zum Treffpunkt für die künstlerische und schreibende Warschauer Kulturszene und die intellektuelle Elite. Auch der Schriftsteller Henryk Sienkiewicz (1846-1916) und der Komponist und Kunstkritiker Antoni Sygietyński (1850-1923) gehören zu diesem Kreis, der den Realismus in der Kunst propagiert. 1878 ist W. kurzzeitig in Paris.

1880/81 reist er zu einem Kuraufenthalt nach Marienbad und Meran und hält sich anschließend bis 1882 erneut in München auf. 1884 wird er künstlerischer Leiter des Wochenblatts für Kunst und Literatur Wędrowiec, das schnell zum Sprachrohr des Realismus avanciert. Im selben Jahr heiratet er die Musiklehrerin Maria Pietrzkiewiczówna, die im Jahr darauf den gemeinsamen Sohn Stanisław Ignacy zur Welt bringt. 1886 reist er erstmals nach Zakopane, wo ihn die Landschaft, die einheimische Bevölkerung und deren Volkskunst faszinieren und seine künftige Arbeit beeinflussen. 1904-05 verbringt er wegen einer Tuberkulose-Erkrankung in Lovran an der Adria, kehrt anschließend für drei Jahre nach Zakopane zurück und lässt sich schließlich 1908 bis zu seinem Lebensende in Lovran nieder. Nach seinem Tod wird er in Zakopane beigesetzt. – Bis in die Mitte der 1880er-Jahre ist die Malerei von W. vom Realismus der Münchner Schule und den aus der polnischen Heimat stammenden Reiter- und Genremotiven der polnischen Künstlergruppe, vor allem von Maksymilian Gierymski und Józef Chełmoński, geprägt. Lichtdurchflutete oder nächtliche Dorfansichten („Herrenhaus in Urdomin/Dwór w Urdominie“, 1873, Privatbesitz) wechseln sich ab mit Motiven aus der Landwirtschaft (Titelbild; „Pflügen/Orka“, 1875, Kunstmuseum Łódź/Muzeum Sztuki w Łodzi), Bildern mit Fuhrwerken („Schmale Durchfahrt/Wąskie wrota“, 1877) und Reiterbildern vom Januaraufstand 1863 („Verwundeter Aufständischer/Ranny powstaniec“, 1881) sowie Genremotiven aus dem Landleben („Beerdigung auf dem Lande/Pogrzeb na wsi“, 1878, alle Nationalmuseum Warschau/Muzeum Narodowe w Warszawie; „Auf dem Markt/Na jamarku“, 1882, Bank Rozwoju Eksportu SA). 1885/87 malt er Motive von der litauischen Ostseeküste in vorwiegend düsterem Kolorit („Blick auf die Ostsee bei Palanga/Widok Bałtyku pod Połągą“, 1885, Nationalmuseum Warschau), die das Meer als Naturgewalt thematisieren. Seit seiner Ankunft in Zakopane wendet er sich unter dem Eindruck des Tatra-Gebirges der Landschaftsmalerei zu und schafft für sich einen neuen Malstil zwischen Realismus, Naturalismus und Symbolismus. Fasziniert von den Kräften der Natur, der Majestät und der rauen Schönheit des Gebirges und atmosphärischen Phänomenen malte er die Bergwelt zu verschiedenen Tages- und Jahreszeiten („Czarny Staw, Schneefall“; „Wald/Las“, beide 1892, „Herbstliche Weiden/Jesieniowisko“; „Bach im Wald“, beide 1894; „Krokusse vor den schneebedeckten Bergen/Krokusy na tle śnieżnych gór“, 1897). Dramatisch aufgefasste Landschaften verkörpern im Sinne des Symbolismus menschliche Stimmungen und Erwartungen, Ängste und seelisches Grauen („Föhnwind/Wiatr halny“; „Ukrainische Nacht/Noc ukraińska“, beide 1895, alle Nationalmuseum Krakau/Muzeum Narodowe w Krakowie). Vereinzelt schafft er veristische und psychologisch vertiefte Studien und Porträts von Einheimischen der Tatra. Die Volkskunst der Podhale wird für W. zum Inbegriff von Polentum und nationaler Identität. Mit seinen Publikationen trägt er dazu bei, diese Region unter polnischen Kunstschaffenden und Intellektuellen populär zu machen. Nach Vorbildern der überlieferten Volkskunst entwirft er selbst Innendekorationen, Möbel, Altäre und Kirchendekorationen, Geschirr und Keramik, Metallwaren, Textilien und Architektur und kreiert so einen modernen, das Handwerk wieder aufwertenden „Zakopane-Stil/Styl zakopiański“. Neben privaten Villen in Zakopane entwirft er in diesem Stil unter anderem 1896-97 das Sanatorium Hawranek und 1904-06 die Kapelle im Stadtteil Jaszczurówka. Während seiner Jahre in Lovran malt er Meerbilder und Küstenlandschaften („Lovran, Landschaftsmotiv I-IV/Lovran, motyw krajobrazowy I-IV“, Nationalmuseum Krakau).

Als Kunstkritiker und -theoretiker setzt er sich gegen die Historienmalerei von Matejko ab und erhebt stattdessen den Realismus in der malerischen Auffassung der Natur zur nationalen Aufgabe. An die Stelle historischer Themen setzt er eine ausgefeilte Analyse der Farbharmonien, logischer Helldunkel-Effekte, von Form und Komposition. Er bereitet damit Naturalismus, Impressionismus und Symbolismus den Weg für die Malerei der polnischen Moderne. Werke befinden sich unter anderem in den Nationalmuseen in Warschau, Krakau und Danzig, im Bezirksmuseum Nowy Sącz/Muzeum Okręgowe w Nowym Sączu, im Muzeum Podlaskie in Białystok, im Kunstmuseum Łódź, im Muzeum Pomorza Środkowego in Słupsk und im Muzeum Tatrzańskie in Zakopane.

* Eine auf „Stanislaus Witkiewicz“ ausgestellte Matrikelurkunde der „Königl. Akademie der bild. Künste in München“ für das Semester 1871/72 (Nationalgalerie Warschau, https://cyfrowe.mnw.art.pl/pl/katalog/775250) lässt sich weder für diesen Zeitraum noch hinsichtlich der dort vermerkten Matrikelnummer mit den Matrikelbüchern der Münchner Akademie in Einklang bringen.

Einzelausstellung: 1927 Warschau, Gesellschaft zur Förderung der Schönen Künste/Towarzystwo Zachęty Sztuk Pięknych (Katalog)

Gruppenausstellungen: Warschau: 1875-78, 1880, 1882, 1883, 1885, 1887, 1892, 1896, 1900 Gesellschaft zur Förderung der Schönen Künste/Towarzystwo Zachęty Sztuk Pięknych; 1880, 1885-91, 1896, Salon Krywult / 1879 München, Glaspalast: Internationale Kunst-Ausstellung / 1891 Berlin, Vereinigung Berliner Künstler: Internationale Kunstausstellung / 1894 Lemberg/Lwów, Pałac Sztuki: Wystawa Sztuki Współczesnej

Eigene Schriften: Na przełęczy. Wrażenia i obrazy z Tatr, Warschau 1891; Sztuka i krytyka u nas (1884-1898), Lemberg 1899; Aleksander Gierymski, Lemberg 1903; Jan Matejko, Krakau 1903; Juliusz Kossak, Lemberg 1906; Z Tatr, Lemberg 1907; Matejko, Lemberg 1912; Ostatnie słowa. Wyjątki z listów do siostry. Sierpień 1914-sierpień 1915, Piotrków 1916; Chrześcijaństwo i katechizm, Lemberg 1920; Myśli, Warschau 1923; Mickiewicz jako kolorysta, Warschau 1923

Literatur: Wanda Nowakowska: Stanisław Witkiewicz w listach do rodziny z lat 1868-1914, Łódź 1963; Wanda Nowakowska: Stanisław Witkiewicz. Teoretyk sztuki, Wrocław 1970; Wanda Nowakowska: Stanisław Witkiewicz o sztuce, krytyce artystycznej, stylu zakopiańskim, wybitnych twórcach sprawach narodowych i społecznych, Wrocław 1972; Jan K. Ostrowski: Die polnische Malerei. Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Beginn der Moderne, München 1989; Halina Stępień/Maria Liczbińska: Artyści polscy w środowisku monachijskim w latach 1828-1914. Materiały źródłowe, Warschau 1994, Seite 66; Teresa Jabłońska: Stanisław Witkiewicz 1851-1915, Ausstellungs-Katalog Muzeum Tatrzańskie, Zakopane, Krakau 1996; Anna Król: Von der ideologischen Landschaft zur Imitation der Welt, in: Die vier Jahreszeiten. Polnische Landschaftsmalerei von der Aufklärung bis heute, Ausstellungs-Katalog Schirn Kunsthalle Frankfurt, Dresden 2000, Seite 44-56; Ewa Micke-Broniarek: Polish Realism and Naturalism, Warschau 2008; Chełmoński - Chmielowski - Witkiewicz. Pracownia w Hotelu Europejskim w Warszawie 1874-1883, Ausstellungs-Katalog Muzeum Narodowe w Poznaniu, Poznań 2010; Egzotyczna Europa. Kraj urodzenia na płótnach polskich monachijczyków/Das exotische Europa. Heimatvisionen auf den Gemälden der polnischen Künstler in München, Ausstellungs-Katalog Muzeum Okre̜gowe w Suwałkach, Suwałki 2015; Daniel Schümann: Stanisław Witkiewicz jako malarz dźwięku, in: Litteraria Copernicana Nr. 1(25), 2018, Seite 65-76; Michał Krajkowski (Herausgeber, und andere): Stanisław Witkiewicz, Toruń 2018; Teresa Jabłońska und andere: Styl zakopiański Stanisława Witkiewicza/The Zakopane style of Stanisław Witkiewicz, Olszanica 2019; Krzysztof Kwiatkowski: Contemporaneity – Zakopane-ness – The Heritage of Zakopane. The Zakopane style in the space of the confrontation of national styles. Stanisław Witkiewicz’s Zakopane style and its differentia specifica, in: Technical Transactions/Czasopismo Techniczne, Band 12, 2019, Seite 53-62; Stille Rebellen. Polnischer Symbolismus um 1900, herausgegeben von Roger Diederen, Albert Godetzky und Nerina Santorius, Ausstellungs-Katalog Kunsthalle München, München 2022; Ewa Micke-Broniarek, in: De Gruyter Allgemeines Künstlerlexikon, Band 116, Berlin, Boston 2022, Seite 509 f.

Online: Zahlreiche Werke im Nationalmuseum Warschau/Muzeum Narodowe w Warszawie auf MN Cyfrowe, https://cyfrowe.mnw.art.pl/pl/artysci/957

Zahlreiche Werke im Nationalmuseum Krakau/Muzeum Narodowe w Krakowie auf MNK Zbiory Cyfrowe, https://zbiory.mnk.pl/pl/wyniki-wyszukiwania?phrase=Stanis%25C5%2582aw%2520Witkiewicz

Schriften, Fotografien und Dokumente in der Nationalbibliothek Warschau/Biblioteka Narodowa w Warszawie auf polona.pl, https://polona.pl/search/?query=Stanis%C5%82aw_Witkiewicz&filters=public:1

Werke auf artyzm.com, http://artyzm.com/e_artysta.php?id=637

Zahlreiche Werke auf Pinakoteka Zascianek, https://www.pinakoteka.zascianek.pl/Witkiewicz/Index.htm

Halina Floryńska-Lalewicz/Irena Kossowska: Stanisław Witkiewicz (2006), auf: culture.pl, https://culture.pl/en/artist/stanislaw-witkiewicz

Biografische Zeitleiste auf Biogramy.pl, https://www.biogramy.pl/a/biografia/stanislaw-witkiewicz-senior-1851-1915-wiesz

(Alle Links wurden zuletzt im Oktober 2022 aufgerufen.)

 

Axel Feuß, Oktober 2022