Karolina Chyżewska: Fast wie zu Hause
Auch andere Arbeiten der Künstlerin drehen sich um verschiedene Aspekte der Liebe wie die graphische Erzählung „Old Friends“, in der eine ältere Dame ihrer gleichaltrigen Freundin in einem Ausbruch von Zorn, Scham und Empörung ihre längst vergangene Liebe gesteht ohne auf Reaktion hoffen zu können. Ein Mann als spontanes Sexobjekt entpuppt sich in dem Comic „Trick“ am Ende nicht als Gegenpol zur #MeToo -Debatte, sondern führt die graphischen Möglichkeiten der Künstlerin vor, Gefühle und Stimmungen zu visualisieren und sich selbst nicht ganz so ernst zu nehmen. 2016 gezeigt auf dem Fumetto Comic-Festival in Luzern, einem der renommiertesten, internationalen Festivals dieser Art in Europa, das in dem Jahr unter dem Wettbewerbsthema „Verführung“ stand, erschien „Trick“ im selben Jahr auch im Magazin Soft Jungle der Gruppe Die Goldene Discofaust. Ebenfalls 2016 präsentierte der Verlag Centrala den Comic „Fast wie zu Hause“ auf der Vienna Comix, dem zentralen Großevent der österreichischen Comic-Szene, und die Künstlerin als Stargast aus Deutschland.
2017 wurde Chyżewska vom Goethe-Institut Norwegen eingeladen, mit neu zu entwickelnden Entwürfen an dem Projekt Picture Politics – Comics Confronting Otherness teilzunehmen. Das Projekt wurde gemeinsam von den Goethe-Instituten in Dänemark, Finnland, Irland, Norwegen, Schweden und dem Vereinigten Königreich veranstaltet, wobei jedes der beteiligten Institute international handverlesene Künstler:innen auswählte. Auslöser waren die aktuelle Flüchtlingskrise und die populistischen und rechtsgerichteten Gegenreaktionen, auf die die Künstler:innen in ihren Comics reagieren sollten. Zweifellos hatte sich Chyżewska auch durch ihren Comic „Fast wie zu Hause“ für Migrationsfragen qualifiziert. Sie konzipierte für das Projekt unterschiedliche Comics und Illustrationen, darunter das auf der Webseite des Goethe-Instituts publizierte Blatt „The One With Jesus“, in dem sie die Weihnachtsgeschichte in die heutige Zeit verlegt und die Frage stellt: „Would you let them in?“
Nach dem Abschluss ihres Studiums 2014 ging Chyżewska nach Berlin und arbeitete zunächst als freie Comiczeichnerin und Trickfilmerin. Polen wieder geographisch näher gekommen, scheint die Bindung aus der Kindheit seit dem Tod der Großmutter geringer geworden zu sein. Zumindest leben die Onkel und Tanten noch dort. Als Teil einer polnischen Szene oder Community in Berlin fühle sie sich nicht, auch wenn sie Veranstaltungen des längst berühmt gewordenen Clubs der polnischen Versager besucht. Wieviel Polen in ihr stecke, wird sie im neuen Interview mit Polskie Radio gefragt. Das herauszufinden und wieweit sie sich mit dem Land identifiziere, sei der Grund für ihren Studienaufenthalt in Krakau gewesen, antwortet Chyżewska. Ihre Mutter sei der festen Überzeugung, dass es wohl einhundert Prozent sein sollten, da sie ja schließlich mit der polnischen Sprache, der Musik, den typischen Speisen, den Büchern und der Mentalität aufgewachsen sei: „Es war meiner Mutter wichtig, uns so viel wie möglich aus diesem Land mitzugeben.“ Die Künstlerin selbst taxiert ihren polnischen Anteil auf fünfzig Prozent, mal mehr, mal weniger je nach Tagesform. Dadurch dass sie – wenn auch nur für sechs Monate – in Polen gelebt habe, sei ihr bewusst geworden, dass sie die Sprache doch nicht vollständig beherrsche, dem Humor und den „Sprüchen“ ihrer Kommilitoninnen nicht immer folgen oder sich daran beteiligen konnte und auch typisch deutsche Nahrungsmittel vermisst hätte.
In ihrem Comic sei sie vor allem der Frage nachgegangen, welche Ähnlichkeiten oder charakterlichen Unterschiede es zwischen den Geschichten ihrer Mutter und den eigenen Erlebnissen gegeben habe. Bei der Frage, wie polnisch sie sei, war es ihr wichtig, beider Leben in ungefähr gleichen Zeitabschnitten zu vergleichen. Die Prägung durch das Elternhaus und die Familie seien für sie entscheidend gewesen, aber Schule, Gesellschaft und die Ausbildung an der Universität hätten sie wieder in ganz neue Richtungen gelenkt: „Ich hätte dieses Buch nie geschrieben, hätten mich meine Freunde nicht auch beeinflusst.“
Ziel ihres Comics, „Fast wie zu Hause“, sei es gewesen, sich selbst zu erforschen, so schließt Chyżewska im Interview: „aber auch, dass man die zweite Generation jener Menschen versteht, die hier groß geworden ist. Wir sind Grenzgänger, wir sind nicht unbedingt polnisch, deutsch oder türkisch, wir sind dazwischen. Ich wollte, dass man das Gefühl versteht, warum es überhaupt existiert. Warum einem, wenn man in Deutschland aufgewachsen ist, das andere Land auch wichtig ist und was letztlich bewirkt, dass man nostalgisch wird, wenn man die polnischen Lieder hört. Ich wollte, dass die Menschen verstehen, warum das so ist. In meinem Fall und ich glaube auch in vielen anderen Fällen, ist der Grund auch die Familie.“
Axel Feuß, März 2020