Karolina Chyżewska: Fast wie zu Hause
Karo, die Protagonistin des Buches, ist also keine fiktive Figur, sondern verkörpert die Autorin selbst, was eine hohe Authentizität der Bilder und Textpassagen bewirkt. Literarisch steht ihr Comic damit zwischen Tagebuch und Lebenserinnerung, gehört aber auch in die Reihe der inzwischen zahlreichen Veröffentlichungen von Autor:innen, die ihre Alltagswirklichkeit als Migrant:innen der ersten oder zweiten Generation zwischen Polen und Deutschland thematisieren wie beispielsweise Emilia Smechowski oder Anna Piasecka – jede natürlich mit anderem Hintergrund, unterschiedlicher Intention und in verschiedenen literarischen Genres.
Chyżewska hatte sich schon während ihrer Gymnasialzeit für Literatur und Theater interessiert. Ihre Spannbreite reichte dabei vom klassischen Schulstoff im Deutsch-Leistungskurs wie Franz Kafka bis zu Aufführungen im Jungen Theater Göttingen wie dem schrillen Travestie-Road-Movie „Priscilla – Königin der Wüste“, das dort im März 2004 auf dem Programm stand. Mit zehn Jahren begann sie zu zeichnen, wetteiferte mit ihrer besten Freundin, wer am besten eine japanische Manga-Figur, „Sailor Moon“, zeichnen konnte, erzählte als Jugendliche kleine Geschichten, erfand neue Erzählungen zu Comic-Charakteren und später Geschichten über eigene Probleme und soziale Themen. Das Zusammenführen beider Talente zum graphischen Erzählen, zu Graphic Novel und dem gezeichneten Roman, hat sich während ihres Studium bei Hendrik Dorgathen und dem Trickfilmregisseur Andreas Hykade (*1968) zu ihrem bevorzugten Arbeitsgebiet entwickelt. Wenn sie sich mit Animation beschäftigt, hat das nichts mit den in kommerziellen Kinos gezeigten Materialschlachten aus Hollywood zu tun, sondern umfasst Trickfilmsequenzen aus gezeichneten Bildern, also erzählerisches Experimentieren. Das Entwickeln von gezeichneten Geschichten, ob als Illustration, Comic oder Trickfilm, steht bis heute für sie im Vordergrund. Sie arbeitet als Art Directorin bei einer Social Media Agentur in Berlin, ist dort zuständig für Graphik und Fotoshootings, hätte aber gern mehr Zeit für ihre künstlerischen Interessen und würde diese gern zu ihrem eigentlichen Beruf entwickeln.
Als Künstlerin ist sie bestens vernetzt. Während ihrer Studienzeit in Kassel gründete sie zusammen mit acht Illustratorinnen, Comiczeichnerinnen und Fotografinnen das Künstlerinnen-Kollektiv Die goldene Discofaust, spontan entstanden nach einer Geburtstagsfeier auf der Tanzfläche im Kellerraum der Universität. Es bildet die Plattform, auf der jede der Teilnehmerinnen individuell gefördert wird und die Gruppe zugleich interdisziplinäre Experimente wagt. Dass mehr als die Hälfte der Frauen einen Migrationshintergrund hat, ist weniger Programm als vielmehr selbstverständlicher Alltag, so wie es auch mehrfach in Chyżewskas Comic, „Fast wie zu Hause“, durchscheint. Neben den eigenen Arbeiten stellen die Künstlerinnen gemeinsam handgemachte Comics, Magazine und Siebdruckerzeugnisse wie Plakate und Kalender her. Sie waren damit bislang auf Festivals für Comic und Illustration in ganz Europa vertreten wie beispielsweise 2013 auf dem unabhängigen Comic-Festival F.O.FF im französischen Angoulême, 2014 auf dem Fumetto Comic Festival in Luzern, 2015 und 2016 auf der Comic Invasion in Berlin, 2016 auf dem Helsinki Comics Festival und auf dem Berliner Kunstfestival 48 Stunden Neukölln sowie 2018 auf dem 3. Zine Festival Les Voizines im belgischen Gent. Sie zeigten ihre Ausstellungen aber auch in Musik-Clubs wie 2012 in der Kasseler Lolita Bar, in Design Shops wie Wild Wood ebenfalls in Kassel, aber auch in Offspaces, also von Künstlern organisierten, nichtkommerziellen, temporären Projekträumen, wie 2016 im Kieler Popshop.
Chyżewska selbst veröffentlichte einen ersten Comic-Strip im Schweizer Comic-Magazin Strapazin, das im September 2013 mit Comics von einhundertfünfzig weltweit ausgesuchten Zeichnerinnen und Zeichnern zum Thema „Fernsehserien“ erschien. 2014 war sie mit ihrem Short Comic „Enter the Forest“, den sie zwei Jahre zuvor in der Illustrations-Klasse an der Kunsthochschule in Krakau entwickelt hatte, in der studentischen Comic-Publikation Triebwerk 6 vertreten. Herausgegeben von der Klasse Illustration/Comic unter der Leitung von Hendrik Dorgathen, gewann die Anthologie beim 16. Internationalen Comic-Salon Erlangen den Max und Moritz-Preis für die beste von Studenten produzierte Veröffentlichung. Im selben Jahr nahm Chyżewska am Santoro Correspondance Course, einem achtwöchigen webbasierten Fernstudium bei dem international bekannten Künstler für Comic und Graphic Novel, Frank Santoro, teil. Dabei entstand anlässlich eines Wettbewerbs für das von Santoro herausgegebene Comics Workbook, ein Online-Magazin, der 16-seitige Comic „Come with me“. Für die graphisch erzählte Geschichte einer ungewöhnlichen und gegen alle Versprechungen nicht im Paradies endenden Liebe erhielt Chyżewska eine ehrenvolle Erwähnung und gab das Werk dann im Eigenverlag unter ihrem Künstlernamen Karochy heraus.