Wieleba Lech – Poetic Jazz
„Achtung – künstlerisches Ereignis!“ titelte die vierzehntägig in Słupsk erscheinende Zeitung Moje Miasto (dt. Unsere Stadt) am 27. September 2014. Im Rahmen des 48. Polnischen Klavier-Festivals (Festiwal Pianistyki Polskiej) hatte dort am 10. September das, so die Zeitung, „sensationelle Sinfoniekonzert“ des Jazz-Ensembles Poetic Jazz mit der Polnischen Philharmonie Sinfonia Baltica (Polska Filharmonia Sinfonia Baltica) stattgefunden. Im Frühjahr 2015 erschien dann das Album „Lech Wieleba – Poetic Jazz Symphonic“ mit der Live-DVD vom Konzert, der einige Tage später aufgenommenen CD und einem 22-seitigen Booklet. Arrangiert wurden Wielebas Kompositionen für Jazz-Quartett und Sinfonieorchester von Bohdan Jarmołowicz, Leiter des Orchesters Sinfonia Baltica und Professor an der Musikakademie Bydgoszcz (Akademia Muzyczna Bydgoszcz), und von Jerry Gates, Komponist, Dirigent und Professor am Berklee College of Music in Boston. Gates war eigens zum Konzert nach Polen gereist und dirigierte am Konzertabend die von ihm arrangierten Stücke. Die Tonträger wurden im Fattoria Musica Tonstudio in Osnabrück gemischt und im Studio Dogmatic Sound in Kalifornien gemastert, die Filme für die DVD vom polnischen Medienkünstler Wojciech Jakub Bielawski aufgenommen und in dessen Filmstudio in Peißenberg geschnitten.
Zwei Jahre Vorbereitungszeit hatte es gekostet, bis die Kompositionen und die Arrangements der zehn zwischen fünf und acht Minuten dauernden Stücke Konzertreife erlangt hatten. Zwar hatte Wieleba schon fast fünf Jahre an dieser Idee gearbeitet. Den konkreten Anstoß gab jedoch sein Aufenthalt in Słupsk im September 2012, als er die Ausstellungs-Eröffnung des mit ihm befreundeten und in Düsseldorf ansässigen Malers, Graphikers und Designers Jerzy Chartowski im Museum für Mittelpommern (Muzeum Pomorza Środkowego w Słupsku) musikalisch begleitete. Wieleba ist mit Słupsk eng verbunden. 1950 in Lębork geboren, besuchte er in Słupsk die weiterführende Schule und hatte hier seine erste musikalische Ausbildung. Hier verabschiedete er sich von seinen Eltern und Geschwistern, als er 1984 mit Frau und Kind nach Hamburg ging. Im November 2011 nahm er in Słupsk mit dem Ensemble Poetic Jazz am Komeda Jazz Festival teil, das nach dem international renommierten polnischen Jazz-Pianisten und Komponisten Krzysztof Komeda (1931-1969) benannt ist und das 1995 von Leszek Kułakowski ins Leben gerufen wurde. Zusammen mit Kułakowski, ebenfalls Komponist und Jazz-Pianist, hatte Wieleba 1978 in Danzig die Jazz-Band Antiquintet gegründet, die bis 1981 bestand und zu der auch der Schlagzeuger Józef Eliasz und der Saxophonist Antoni Śliwa gehörten. Während der Vorbereitungszeit für „Poetic Jazz Symphonic“ absolvierte Wieleba im Fernstudium eine Fortbildung für Music Composition For Film and TV bei Ben Newhouse, Professor für Komposition an der Berklee School of Music. Dieser empfahl Jerry Gates als Arrangeur für das neue Programm. Am 12. April 2015 war „Poetic Jazz Symphonic“ dann erneut mit der Polnischen Philharmonie Sinfonia Baltica und unter der Leitung von Jarmołowicz und Gates anlässlich des Musik-Festivals in Danzig (Gdański Festiwal Musyczny) in der Konzerthalle der Baltischen Philharmonie (Polska Filharmonia Bałtycka im. Fryderyka Chopina w Gdańsku) zu hören.
Das Album „Lech Wieleba – Poetic Jazz Symphonic“ dokumentiert zum ersten Mal das gemeinsame Musizieren des Jazz-Ensembles mit einem klassischen Sinfonieorchester. Allgemein sei das Vermischen von Jazz und klassischer Musik ungewöhnlich, sagt Wieleba, „wir haben einfach auf den richtigen Augenblick gewartet“. Und Bohdan Jarmołowicz fügt in dem Interview hinzu, das auf der DVD zu sehen ist, dass das Zusammenwirken eines Orchesters, welches traditionell nach Noten spielt, mit einem Jazz-Ensemble, das über lange Phasen improvisiert, eine kreative Herausforderung gewesen sei. Dass die Musik von Poetic Jazz nun eine größere Tiefe bekommen habe und man die Musik von Lech Wieleba jetzt „mit ausgebreiteten Armen“ umfassen könne, ist aus dem Publikum zu hören. In den Stücken des Programms werden kurze Geschichten aus dem Alltag erzählt. Jeder wisse, so Wieleba, wie es sei, wenn man vergeblich auf einen Anruf warte. Das Stück „Waiting for the Call“ interpretiere diese Stimmung. „Jeder hasst den Regen“, sagt Wieleba, „aber ich erinnere mich an einen Morgen in der Provence. Nach sechzig Tagen Trockenheit und Hitze begann es plötzlich zu regnen, leicht und von der Sonne begleitet. Noch nie war ich so froh, Regen zu sehen, und deshalb habe ich das Stück ‚La Chanson de la Pluie‘ dem Regen gewidmet.“ „Dla Ireny“ und „Zbynio“ sind Hommagen an seine Mutter und an seinen Bruder. „Tangeczko“ (dt. Kleiner Tango), von Wieleba selbst arrangiert, und „Blue Tango Nuevo“ sind auch für den nicht eingeweihten Zuhörer als Tango-Variationen zu erkennen. Und wer will, hört nicht nur durch das Sinfonieorchester Bezüge zur klassischen Musik. In dem Stück „Mazur“ (dt. Mazurka) mündet die Beschreibung der Landschaft Masowiens in den von dort stammenden Volkstanz, ähnlich wie Smetana die Schilderung des Laufs der Moldau in den Tanz auf einer Bauernhochzeit übergehen lässt. Und Wielebas „Elven Dance“ scheint zumindest in den Anfangssequenzen von Debussys „Prélude à l’après-midi d’un faune“ inspiriert, bevor die Jazz-Improvisation dem Stück eine neue Dynamik verleiht.
Lech Wieleba studierte Kontrabass am Konservatorium in Danzig (heute Zespół Szkół Muzycznych w Gdańsku-Wrzeszczu) bei Stanisław Rosiek, bei dem er 1977 sein Studium abschloss. Anschließend konzertierte er vier Jahre lang in Danzig an der Staatsoper und an der Philharmonie. Seit langem aber hatte er sich für Jazz interessiert. Bereits 1975 trat er auf dem zwei Jahre zuvor gegründeten Jazz Jantar Festival in Danzig in der Band des amerikanischen Free-Jazz-Musikers Don Cherry (1936-1995) auf. 1980 wurde ihm in Warschau der Krzysztof-Komeda-Preis verliehen. Im selben Jahr war er mit der Band Antiquintet Gewinner des Festivals Jazz nad Odrą (dt. Jazz an der Oder) in Breslau und trat auf dem Jazz Jamboree Festival in Warschau auf, dem ältesten internationalen Jazz-Festival Polens. 1982/83 ging er mit dem von dem Saxophonisten Ryszard Misiek (1947-2010) in Danzig gegründeten Polski Teatr Instrumentalny auf Europa-Tournee.
Nach seiner Übersiedlung nach Hamburg 1984 etablierte sich Wieleba auch in der deutschen Musikszene. Mit dem Liedermacher Franz Josef Degenhardt (1931-2011) nahm er drei CD-Alben auf (1986 „Junge Paare auf Bänken. Franz Josef Degenhardt singt Georges Brassens“, 1987 „Da müssen wir durch“, 1988 „Stationen“), mit Udo Lindenberg 1987/88 das Album „Hermine“, die alle bei Polydor erschienen sind. Für das zweiteilige Fernseh-Doku-Drama des Regisseurs Horst Königstein wirkte Wieleba 1987 beim Soundtrack mit. Mit der in Kalifornien beheimateten Band Golden Bough spielte er 1987 keltische Musik für die bei Arc Music erschienene Langspielplatte „Winding Road“ ein. 1993 produzierte er zusammen mit Bernd von Ostrowski (Vibraphon), Hans-Jörn Brandenburg (Klavier) und Hans-Peter Stiller (Schlagzeug) als The Classic Jazz Quartet eine CD mit „Modern Jazz Classics“, die im Lichtwarksaal der Carl-Toepfer-Stiftung in Hamburg aufgenommen wurde. Auch bei Musical-Produktionen wie „Phantom der Oper“, „Closer than Ever“ und „Fiddler on the Roof“ wirkte er in Hamburg mit. Sechs Jahre lang arbeitete er mit dem Aktionskünstler und Kulturmanager André Heller zusammen, unter anderem 1993-95 als musikalischer Leiter des Berliner Wintergarten-Varietés auf Tourneen durch Deutschland, die Schweiz und Österreich. 1998 und 2002 spielte er zusammen mit Witek Kornacki (Klarinette) und Angel Garcia Arnés (Gitarre) als Sureste Tango Trio die CDs „Soledad“, „Pasión en Tango“ und „María de Buenos Aires“ mit Musik von Astor Piazzolla ein. Mit dem Sureste Tango Trio tourte er zwischen 1998 und 2005 durch zahlreiche europäische Länder. Für Theaterproduktionen wie „La Musica“ nach Marguerite Duras im Theatron in Hamburg oder „Chawale“ im Theater am Hechtplatz in Zürich komponierte er die Musik.
Seit der Jahrtausendwende war Wieleba zunehmend in der Schweiz und im Bodensee-Raum anzutreffen. 2002 etwa war er an der Theaterproduktion „Rothschilds Geige“ nach Anton Tschechow im Théâtre La Fourmi in Luzern beteiligt. 2002 trat er mit seinem Programm Sureste Tango, 2004 mit Tango, Jazz und Klezmer-Musik in La Chaux-de-Fonds in der West-Schweiz auf. Schon 1995 hatte er zusammen mit der Hamburger Schauspielerin Paula Quast ein lyrisch-musikalisches Porträt der aus dem polnischen Westgalizien stammenden jüdischen Dichterin Mascha Kaléko (1907-1975) entwickelt. Die Veranstaltung war im deutschsprachigen Raum noch bis 2007 zu hören.
Im Zentrum aber stand seit 2002 Wielebas neues Programm „Poetic Jazz“, zu dem im selben Jahr das erste CD-Album „Open The Heart“ erschien, das live im Konzertsaal des Augustinums in Aumühle bei Hamburg aufgenommen wurde. Mit Jan-Peter Klöpfel am Flügelhorn, André Mornet am Klavier, Ali Husseini am Schlagzeug und natürlich Lech Wieleba am Kontrabass enthält es bereits erste Versionen von „Waiting for the Call“ und „La Chanson de la Pluie“. „Eine wunderbare Leichtigkeit erfüllt diese Musik, geformt aus der Urkraft des Jazz, der herbstlich-pastelligen Melodik des slawischen Musikanten und der hohen Kunst der Klassik“, urteilte Christoph Pfister am 14.2.2003 in der Allgäuer Zeitung. 2005 absolvierte Poetic Jazz, teilweise in neuer Besetzung, Konzerttermine unter anderem in Düsseldorf, Berlin und Nürnberg.
In Olten in der Schweiz gastierte das Quartett im April 2005 auf Einladung des Vereins Jazz in Olten in der Vario-Bar. Silvano Luca Gerosa, bis 2008 Präsident des Vereins und heute nebenberuflich Redaktionsmitglied des Schweizer Jazzmagazins Jazz 'n' more, schrieb in den Ankündigungen für das Konzert, dort würden „Elemente der Klassik und des Jazz mit einer slawischen Melodik zusammengeführt, was eine seltsam ergreifende, wunderschöne poetisch-lyrische Musik entstehen lässt“, und ausführlicher: „In der Tat scheuen sich Poetic Jazz nicht vor einmalig schönen, verträumten Melodien, aber auch melancholischen Stimmungen. Selten berührt einen eine Jazzformation emotional dermaßen, fährt unter die Haut. Dazu trägt sicher auch die besondere Besetzung mit einem von Claas Ueberschär lyrisch geblasenen Flügelhorn bei. Das Schlagzeug schlägt – streichelt, müsste man der Korrektheit halber sagen – Wielebas Sohn Pawel. Besonders zu erwähnen gilt es den polnischen Pianisten Vladislav Sendecki, der als Pianist der NDR Big Band bekannt wurde und mit Größen wie Jaco Pastorius, Joe Henderson oder Billy Cobham spielte.“
Im Dezember 2005 erschien das CD-Album „Danzarina“, wiederum mit Klöpfel am Flügelhorn, mit Vladislav Sendecki am Klavier und mit Pawel Wieleba am Schlagzeug. Das Album enthält erste Versionen von „Dla Ireny“ und „Blue Tango Nuevo“. Im April 2006 gastierte Poetic Jazz im Berliner Museum Europäischer Kulturen mit einem Konzert zur Finissage der Ausstellung „Polenbegeisterung. Deutsche und Polen nach dem Novemberaufstand 1830“ und zum Deutsch-Polnischen Jahr 2005/06. Am 12. Dezember 2007 gab das Ensemble in der Hamburger Laeiszhalle sein Weihnachtskonzert mit dem Programm „Danzarina“, erweitert um Bearbeitungen der Musik des siebzig Jahre zuvor verstorbenen polnischen Komponisten Karol Szymanowski (1882-1937). 2009 kam die CD „Mazur“ heraus, zu der Poetic Jazz mit dem Untertitel „To poezja bez słów“ (dt. Poesie ohne Worte) eine „Release Tour“ durch kleinere deutsche Städte wie Lippstadt, Rendsburg, Cloppenburg, Grefrath und Krefeld veranstaltete. 2010 absolvierte das Ensemble neben Konzerten in norddeutschen Städten auch Aufführungen im Schloss Seefeld in Oberbayern und im Schloss Rapperswil am Zürichsee, wo es ein Abschlusskonzert zum Jubiläumsjahr des 140-jährigen Bestehens des Polenmuseums Rapperswil gab. 2011 standen deutschlandweit zehn Konzerte sowie das Komeda Jazz Festival in Słupsk auf dem Programm. Auf der CD „Mazur“ ist Enno Dugnus am Klavier dabei und die ersten Versionen von „Zbynio“ und „Elven Dance“ sind zu hören.
Seit dem neuesten Album „Poetic Jazz Symphonic“ präsentiert sich das Ensemble Poetic Jazz mit Claas Ueberschär an Flügelhorn und Trompete, Enno Dugnus am Klavier, Pawel Wieleba am Schlagzeug und Lech Wieleba am Kontrabass. Pawel Wieleba wurde 1981 in Danzig geboren. Seine Mutter ist die Musikpädagogin Ewa Bautembach-Wieleba. Als Kind und Jugendlicher lernte er Klavier und Schlagzeug. Er besuchte drei Jahre lang in Hamburg die Musikschule Achtelik & Co und lernte dort bei Robbie Smith und Lorenz Hoppe das Schlagzeugspiel zu populären Musikstilen. Er spielte in Bands und gelangte über Rock- und Funk-Combos zum Jazz. 2009 beendete er sein Studium der Systematischen Musikwissenschaften an der Universität Hamburg mit einer Abschlussarbeit über „Konzepte des Schlagzeugspiels". Enno Dugnus, Jahrgang 1959, absolvierte von 1982 bis 1987 ein klassisches Studium von Klavier und Trompete an der Musikakademie der Stadt Kassel und lebt seit 1991 in Hamburg. Er war an zahlreichen Theaterproduktionen u.a. am Lübecker Theater und am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg beteiligt, war musikalischer Leiter für Produktionen am Altonaer Theater in Hamburg und war an Berliner Theatern tätig. Dugnus hat auch ein eigenes Trio, mit dem er unter anderem im Januar 2016 in der Hamburger Bar Italia Musik von Krzysztof Komeda und selten gehörte brasilianische Musik aufführte. Claas Ueberschär, geboren 1966, studierte an der Hochschule für Musik und Theater in Hannover und an der Folkwang Musikhochschule in Essen, wo er 1992 sein Diplom ablegte. Von 1993 bis 1995 besuchte er als Stipendiat des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) The New School und das Mannes College of Music in New York. Ende der Neunzigerjahre ging er nach Hamburg und ist seitdem fester Bestandteil der dortigen Jazz-Szene. Auch er hat seine eigene Band, das Quartett claasue4, dem unter anderem der 1977 in Tychy in Polen geborene Jazz-Pianist Matthäus Winnitzki angehört und das im Februar 2016 sein zweites Album herausgebracht hat.
Axel Feuß, April 2016
Quellen:
www.poetic-jazz.com sowie zahlreiche Webseiten im weltweiten Netz.
Wir danken Lech Wieleba und Simone Louis für Informationen und Korrekturen.
Krystyna Danilecka-Wojewódzka / Andrzej Obecny: POETIC JAZZ symfonicznie na Festiwalu Pianistyki Polskiej, in: Moje Miasto, Nummer 18 (269) Słupsk, 27.9.2014, www.mojemiasto.slupsk.pl
Silvano Luca Gerosa: Verträumt und melancholisch. Olten. Poetic Jazz gastiert in der Vario-Bar, in: Oltener Tagblatt vom 15. April 2005
www.filharmonia.gda.pl/pl/repertuar/icalrepeat.detail/2015/04/12/853/-/poetic-jazz