Polnische Malerei vom Ausgang des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.
„Polnische Malerei vom Ausgang des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart“. Die erste „offiziöse“ Ausstellung polnischer Kunst in der Bundesrepublik 1962/63.
Zahlreiche Publikationen, Ausstellungen und Tagungen haben in den vergangenen Jahren darauf aufmerksam gemacht, dass der Eiserne Vorhang porös war, der sogenannte Ostblock kein monolithischer Block, und es dort eine Kunst jenseits des Sozialistischen Realismus gab. Gleichwohl sind die Forschungslücken nach wie vor groß, vor allem was den Kulturaustausch zwischen Ost und West betrifft. Bisweilen scheint es, die eine Blindheit sei durch eine andere ersetzt worden: Vor lauter (Selbst-)Kritik an westlicher Arroganz und Ignoranz wird übersehen oder bagatellisiert, was es an Kontakten und Austauschbemühungen im Kalten Krieg tatsächlich gab. Dies gilt auch für die sogenannte „polnische Welle“, die – heute weitgehend vergessen – zu Beginn der 60er Jahre den bundesdeutschen Kulturbetrieb erfasste und sich nicht nur in Theater-, Konzert- und Rundfunkprogrammen, sondern auch in einem regelrechten Boom an Ausstellungen polnischer Gegenwartskunst manifestierte. Erforscht sind diese bislang kaum.
Einen Höhepunkt bildete damals die Schau „Polnische Malerei vom Ausgang des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart“, die das Museum Folkwang vom 15. Dezember 1962 bis zum 3. Februar 1963 präsentierte (Abb. 1–3). Die Ausstellung, anschließend noch in Stuttgart (Württembergischer Kunstverein), Karlsruhe (Badischer Kunstverein) und Bremen (Galerie Die Böttcherstraße) zu sehen, war vom Nationalmuseum in Warschau ausgerichtet worden und verdankte sich einer Initiative des Generalbevollmächtigten der Firma Krupp, Berthold Beitz, und seines engen Beraters und PR-Chefs Carl Hundhausen.
NEUE QUELLENFUNDE
Zwar war es bei Weitem nicht die erste Präsentation polnischer Kunst in der Bundesrepublik – nach vereinzelten Ausstellungen bereits zu Beginn der 1950er Jahre (z. B. Polnische Plakatkunst, Frankfurt a. M. 1950) nimmt die Zahl seit 1956, begünstigt durch das Tauwetter in Polen, sprunghaft zu (darunter z. B. „Neue Kunst aus Polen“, Wanderausstellung durch elf bundesdeutsche Städte 1958/59, oder „Tadeusz Kantor“, Düsseldorf 1959); allein für 1962 lassen sich neben der Schau im Museum Folkwang acht weitere Ausstellungseröffnungen mit polnischer Kunst nachweisen (u. a. in München, Hamburg und Rheinhausen). Dennoch kommt der Folkwang-Ausstellung besondere Bedeutung zu: Mit 81 Gemälden und 75 Zeichnungen war sie die bis dahin größte Überblicksausstellung zur polnischen Moderne, und vor allem galt sie als erste „offiziöse“ Schau (Albert Schulze Vellinghausen, Polnische Malerei. Ausstellung im Folkwangmuseum Essen, F.A.Z, 31.12.1962). Sie ging zwar nicht auf eine offizielle Einladung der Bundesregierung zurück, was zu diesem Zeitpunkt politisch undenkbar gewesen wäre, denn diplomatische Beziehungen wurden erst 1972 aufgenommen, ein Kulturabkommen erst 1976 geschlossen. Immerhin aber handelte es sich um ein Gastspiel des Warschauer Nationalmuseums, und die Gastgeber und Organisatoren auf deutscher Seite – neben dem Museum Folkwang vornehmlich die Firma Krupp und die Stadt Essen, die die Ausstellung auch gemeinsam finanzierten – taten alles, um dem Ereignis ein möglichst offizielles Gepräge zu geben: angefangen mit der Beflaggung vor dem Museum in polnischen, bundesdeutschen und Essener Farben über den feierlichen Festakt zur Eröffnung bis zum ambitionierten Besuchsprogramm, das für die Vertreter des Warschauer Nationalmuseums arrangiert wurde.
Aufschluss darüber geben die Ausstellungsakte 2356 im Archiv des Nationalmuseums in Warschau (AMNW), eine Ausstellungsakte (ohne Signatur) im Archiv des Museums Folkwang (AMF) sowie Akten aus dem Bestand Carl Hundhausen (bes. WA 125/2) im Historischen Archiv Krupp (HAK) in Essen. Während Ausstellung und Katalog in der Literatur gelegentlich erwähnt werden, sind diese Dokumente bislang nicht ausgewertet worden. Auch in den einschlägigen Publikationen zu Berthold Beitz taucht die Ausstellung nicht auf.
Das Archivmaterial erschließt nicht nur die Chronologie der Ausstellungsvorbereitungen, sondern beleuchtet auch schlaglichtartig die bundesdeutsche Stimmungslage in den polnisch-westdeutschen Beziehungen. Nicht zuletzt ging es dabei um Imagepflege mit den Mitteln der Kultur. Zu den wichtigsten Dokumenten gehören in diesem Zusammenhang die minutiösen Reiseberichte im AMNW von Stanisław Lorentz, dem Direktor des Warschauer Nationalmuseums, und seinem Kurator Stefan Kozakiewicz, die beide auf Einladung der Stadt Essen und der Firma Krupp für jeweils zwei Wochen die Bundesrepublik besuchten.
DIPLOMATISCHE VORGESCHICHTE
Die zeithistorischen Rahmenbedingungen für Kulturkontakte zwischen den beiden Ländern waren um 1960 ungünstig und günstig zugleich. Einerseits war die politische Annäherung an Polen in den letzten Jahren der Adenauer-Ära weiterhin geprägt von Sackgassen, verpassten Chancen und beiderseitigen Verstimmungen; nach wie vor standen Hallstein-Doktrin und Nicht-Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze der Aufnahme diplomatischer Beziehungen entgegen und waren kaum geeignet, das ohnehin zutiefst belastete Verhältnis zu verbessern. Andererseits markieren die quasi-diplomatischen Polen-Missionen Berthold Beitz’ und Gerhard Schröders (CDU) Übernahme des Außenamts nach den Wahlen vom Herbst 1961 den Beginn einer „Politik der kleinen Schritte“ hin zur Normalisierung der Beziehungen. In Polen wiederum florierte dank des post-stalinistischen Tauwetters in der zweiten Hälfte der 50er Jahre eine lebendige, vielgestaltige und höchst „westlich“ anmutende Kunst- und Kulturszene, die Sympathien und Neugier beim bundesdeutschen Publikum nährte – auch dann noch, als nach wenigen Jahren wieder frostigere Zeiten in Polens Kulturpolitik anbrachen. Polen „ist hier groß in Mode“, staunte auch Stanisław Lorentz bei seinem Besuch im Februar 1963 (Bericht Lorentz, AMNW). Und schließlich profitierten die Kulturbeziehungen gerade von dem schwierigen politischen Verhältnis, bot dieses doch für viele Bundesbürger einen Anreiz, sich um jene umso mehr zu bemühen.
Dass kulturelle Annäherung als Schrittmacher politischer Annäherung dienen könne, war in dieser Zeit ein gern beschworener Gedanke, der Anfang 1961 für kurze Zeit sogar Teil der offiziellen Bonner Agenda wurde: Neben einem Wirtschaftsabkommen und dem Austausch von Konsulaten sollte ein Kulturabkommen den Weg zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen ebnen. Diese Vorschläge unterbreitete Beitz im Auftrag Adenauers und begleitet von Hundhausen am 23. Januar 1961 Polens Premierminister Józef Cyrankiewicz (dokumentiert in: Mieczysław Tomala, Deutschland – von Polen gesehen. Zu den deutsch-polnischen Beziehungen 1945–1990, Marburg 2000, 199–209). Allerdings scheiterten die Sondierungsgespräche am Misstrauen der polnischen Regierung, die hinter dem Vorstoß nur ein weiteres Hinhaltemanöver der Bundesregierung witterte. Mit Ersatzangeboten aber wollte man sich nicht abspeisen lassen, nur mit Verzögerung wurde ein Wirtschaftsabkommen 1963 schließlich doch noch auf den Weg gebracht.
Das politische Fiasko vom Januar 1961 ist im Hinblick auf die Folkwang-Ausstellung deshalb bemerkenswert, weil es exemplarisch zeigt, wie dicht das Scheitern offizieller und die Erfolge inoffizieller Kontakte in den polnisch-westdeutschen Beziehungen oftmals beieinander lagen. Denn die Folkwang-Ausstellung wurde just zur selben Zeit und in derselben Personenkonstellation (Beitz, Hundhausen, Cyrankiewicz) in Angriff genommen. Es ist gut möglich, dass gerade das Misslingen der offiziellen Gespräche die Beteiligten in ihrem persönlichen Engagement bestärkt hat. Beitz’ und Hundhausens guten Beziehungen zur polnischen Regierung und den Vorbereitungen der Folkwang-Ausstellung jedenfalls tat Beitz’ Misserfolg als Amateur-Diplomat keinen Abbruch. Nach verschiedenen Gesprächen zwischen Beitz, Hundhausen, Cyrankiewicz und dem polnischen Kulturminister Tadeusz Galiński erteilte Cyrankiewicz im Sommer 1961 seine offizielle Zustimmung und am 12. August 1961 konnte Hundhausen Beitz triumphierend verkünden: „Die Ausstellung im Museum Folkwang ist in jeder Hinsicht gesichert.“ (HAK, WA 125/2)
Mehrere Umstände kamen den Vorbereitungen entgegen. Zum einen hatten mit Beitz und Hundhausen zwei ebenso umtriebige wie gut vernetzte und einflussreiche Persönlichkeiten die Planungen in die Hand genommen, denen zudem auch aus unternehmerischen Gründen an guten Kontakten nach Polen gelegen war. Zum anderen handelte es sich nicht um die erste Zusammenarbeit zwischen der Firma Krupp und dem Nationalmuseum in Warschau. Bereits für Großausstellungen des Villa Hügel e.V., dessen Geschäftsführendes Vorstandsmitglied Hundhausen war, hatte Direktor Lorentz Leihgaben zur Verfügung gestellt, so für die Ausstellungen ägyptischer und persischer Kunst im Sommer 1961 bzw. Frühjahr 1962. Auch mit der Stadt Essen und dem Museum Folkwang konnten Beitz und Hundhausen auf wohletablierte Partnerschaften zurückgreifen. Und nicht zuletzt machte sich der Stimmungswandel im Auswärtigen Amt (AA) bemerkbar: War dieses bislang für seine Blockadepolitik berüchtigt gewesen, setzte sich spätestens mit Schröders Amtsantritt im Herbst 1961 eine beweglichere Haltung gegenüber den Ostblockstaaten durch. Auch auf dem Gebiet des polnisch-westdeutschen Kulturaustauschs wurde das AA, zumindest auf inoffizieller Ebene, vermehrt aktiv – gemäß der Einsicht, „dass der kulturelle Austausch gerade dann von Wichtigkeit“ sei, „wenn die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen auch einmal nicht so gut funktionieren“, wie es der Leiter der Kulturabteilung des AA, Dieter Sattler, formulierte (laut Bonner Krupp-Vertreter Günter Lück an Beitz, 6.2.1963, AMNW). Bereits im Sommer 1961 hatte sich dies angedeutet: Gegen die geplante Ausstellung bestünden „keinerlei Bedenken“, ließ die Kulturabteilung des AA wissen, sie sei „zurzeit […] sogar sehr erwünscht“ (Hundhausen an Beitz, 20.6.1961, AMF). Die Situation blieb allerdings weiterhin intrikat, wie eine Anekdote Hundhausens über seinen Besuch mit Lorentz bei Sattler im Februar 1963 illustriert: „Herr Lorentz und Herr Sattler haben ein eingehendes Gespräch miteinander geführt, über dessen Verlauf Herr Sattler sichtlich befriedigt war, und das er mit der Bemerkung quittierte: ‚Eigentlich dürften wir beide ja überhaupt nicht miteinander reden.‘“ (Hundhausen an Beitz, 14.2.1963, AMNW)
AUSSTELLUNGSVORBEREITUNGEN
Die Dokumente zur Essener Ausstellung sind nicht nur zeithistorisch aufschlussreich, sie stellen auch kunsthistoriografische Gemeinplätze in Frage. Im Katalog zur Europa, Europa-Ausstellung in der Bonner Bundeskunsthalle von 1994 fragte Christoph Brockhaus: „Was haben wir von der Moderne östlicher Provenienz in den vergangenen Jahrzehnten im Westen gesehen?“ – und gab folgende Antwort: „doch in der Regel bestenfalls Werke, die durch staatliche Förderung belastet und eher einen bitteren Nachgeschmack hinterließen als Neugierde weckten“ sowie Ausstellungen, „die mehr auf dem Wege politischer oder wirtschaftlicher Vermittlung zustande kamen als durch fachliche Begründung“ (Band 1, S. 27). Wenn dies die Regel war, so bildeten bundesdeutsche Ausstellungen polnischer Gegenwartskunst regelmäßig eine Ausnahme. Auch die Folkwang-Ausstellung zeigt, dass staatlich geförderte nicht automatisch Staatskunst war, wie Brockhaus suggeriert, und dass sich zudem „politische oder wirtschaftliche Vermittlung“ und „fachliche Begründung“ nicht ausschlossen. Nicht allein die stilistische Vielfalt der in Essen präsentierten polnischen Gegenwartskunst durchkreuzte gängige Vorstellungen von Kunstausstellungen sozialistischer Provenienz, sondern auch die Entstehungsgeschichte der Ausstellung, wie aus den Ausstellungsakten in Warschau und Essen hervorgeht. Die Schau war vom Museum Folkwang und dem Nationalmuseum in Warschau gemeinsam erarbeitet worden; maßgeblich für die Zusammenstellung der Exponate waren dabei die Vorschläge des Folkwang-Direktors Heinz Köhn, sowohl was die Gesamtkonzeption betrifft als auch die Auswahl der einzelnen Künstler und Werke. Als eine von oben diktierte Propaganda- und Leistungsschau des polnischen Staates lässt sich die Ausstellung mithin kaum bezeichnen. Wenn daher die Kunstkritikerin Anna Klapheck 1963 in ihrer Besprechung schreibt, die Ausstellung sei „von offiziellen Stellen auf die Reise geschickt worden“ und zeige die polnische Kunst so, „wie diese Stellen sie im westlichen Ausland gesehen haben möchten“ (Freie Kunst aus Polen. „Polnische Malerei“ im Essener Folkwangmuseum, Rheinische Post, 4.2.1963), so ist dies zumindest nur die halbe Wahrheit.
Köhn reiste zweimal, im August 1961 und im Juni 1962, nach Warschau, um die Ausstellung vorzubereiten. Von beiden Aufenthalten kehrte er „mit tiefen Eindrücken und sehr erfreut“ zurück, wie er Lorentz am 29. Juni 1962 versichert (AMNW). In diesem Brief resümiert er das Ergebnis seiner Besprechungen mit Kurator Kozakiewicz und begründet noch einmal sein Ausstellungskonzept. Die dort erwähnte Liste der von ihm ausgewählten Werke hat sich nicht erhalten, Köhns Künstlervorschläge werden jedoch in einem Bericht im AMNW zitiert. Der Vergleich dieser Vorschläge mit dem Katalog bestätigt, dass die Ausstellung, wie vereinbart, gemäß Köhns Vorstellungen realisiert wurde. Köhn war es auch, auf dessen Wunsch hin die Ausstellung nicht nur Gegenwartskunst umfasste, wie ursprünglich geplant, sondern auch Werke der Jahrhundertwende und der klassischen Moderne. Da die polnische Malerei in der Bundesrepublik „nicht genügend bekannt“ sei, sollten die Besucher auf diese Weise „ein volleres und erst charakteristisches Bild von der polnischen Malerei des 20. Jahrhunderts bekommen“ (ebd.).
Die vorwiegend aus Beständen des Nationalmuseums zusammengestellte Ausstellung bemühte sich dementsprechend um einen repräsentativen Querschnitt durch die Hauptströmungen der polnischen Moderne: vom Postimpressionismus einer Olga Boznańska über Władysław Strzemińskis Konstruktivismus der 1930er Jahre bis zur Gegenwartskunst, die in einem breiten Spektrum abstrakter wie figurativer Tendenzen von Spielarten des Surrealismus bis zum Informel vorgestellt wurde; auch dem „Socrealizm“ wurde ein Plätzchen eingeräumt. Vertreten war die zeitgenössische Kunst insbesondere durch Mitglieder der wiedergegründeten „Grupa Krakowska“ wie Maria Jarema, Tadeusz Kantor, Alfred Lenica, Jerzy Nowosielski und Jonasz Stern, die bereits damals zum Kanon der polnischen Nachkriegsavantgarde zählten und zum Inbegriff des kulturellen Tauwetters wurden. Einige von ihnen waren als Teilnehmer und Preisträger von documenta und Biennale Venedig bereits einem internationalen Publikum bekannt und in den frühen 1960er Jahren wiederholt auch auf Ausstellungen in der Bundesrepublik zu sehen.
Freilich musste Köhns Wunschliste erst diverse Instanzen des polnischen Ministeriums für Kultur und Kunst (MKS) passieren, insgesamt aber scheinen sich die Behörden weniger für die Inhalte der Ausstellung als für die Frage nach der Kostenübernahme interessiert zu haben: Die Genehmigung sowohl für die Reisen von Lorentz und Kozakiewicz in die Bundesrepublik als auch für die Weiterreise der Ausstellung in andere Städte wurde vom Ministerium unter der Voraussetzung erteilt, dass – neben der Garantie bester konservatorischer Bedingungen – die Kosten vollständig von deutscher Seite getragen würden (Lorentz an MKS, 6.11.1962, ANMW; MKS an Lorentz, 3.12.1962, ANMW). Köhn selbst sollte die Ausstellung nicht mehr erleben: Er erkrankte im Herbst 1962 schwer und starb zwei Tage nach der Eröffnung. Um die letzte Etappe der Ausstellungsvorbereitung kümmerte sich sein Stellvertreter und späterer Nachfolger, der Kustos Paul Vogt.
ZU GAST IN DER BUNDESREPUBLIK
Wenn die Ausstellung eine Propagandaschau war, dann weniger eine des polnischen Kulturministeriums als der Firma Krupp und der Essener Stadtväter. In einer Zeit, in der die wenig konstruktive Bonner Polenpolitik zunehmend an Rückhalt verlor, boten Initiativen wie die Folkwang-Ausstellung willkommene Gelegenheit, sich demonstrativ als Wegbereiter polnisch-westdeutscher Annäherung in Szene zu setzen. So wurde die Schau nicht nur zu einem persönlichen Triumph für Berthold Beitz und ein PR-Erfolg für die Firma Krupp, sondern auch als Plattform politischer Selbstdarstellung vereinnahmt. Wenn man auch zweifeln mochte, ob Kultur ein wirksames Mittel politischer Annäherung sein konnte, so ließ sich mit ihr zweifellos ausgezeichnet politisieren. Mehr noch als für die Ausstellung selbst gilt dies für die Besuche von Kurator Kozakiewicz (6.–21.12.1962) und Direktor Lorentz (2.–17.2.1963) in der Bundesrepublik.
Kozakiewicz blieb nicht verborgen, dass die Ausstellung und seine Reise von Krupp und der Stadt Essen „dazu benutzt werden sollten“, deren Engagement in Sachen deutsch-polnischer kultureller Annäherung „zu demonstrieren“ (Bericht Kozakiewicz, AMNW; bezeichnenderweise verwendete er das pejorative Verb „wyzyskać“, „ausnutzen“). In der Tat hatten Beitz, Hundhausen und die Stadt Essen nichts dem Zufall überlassen und ein dichtes Besuchsprogramm organisiert, das zu einem veritablen Parforce-Ritt durch Pressetermine und Begegnungen mit bundesdeutscher Prominenz aus Kultur, Wirtschaft und Politik geriet (der Ablaufplan hat sich im AMF erhalten). In Kozakiewicz’ Bericht liest sich dies so: „Das Programm sah einen Besuch beim Oberbürgermeister von Essen im Rathaus vor, […] einen Empfang anlässlich der Ausstellungseröffnung, einen Besuch in München im Bayerischen Kultusministerium und beim Stadtrat, einen Empfang durch den Hamburger Stadtrat, den Bremer Stadtrat, sowie Besuche Kölns, Bonns und Stuttgarts. Aus dem Programm gestrichen wurde der vorgesehene Besuch beim Stadtrat in München und Bremen, dafür kam eine Einladung in Essen zum Mittagessen im Privathaus von Herrn Beitz hinzu und zum Tee in die Villa Hügel beim Nestor der Familie Krupp, Tilo von Wilmowsky, sowie in Stuttgart beim Kultusminister von Württemberg und beim ehemaligen Bundespräsidenten Heuss. Ich war auch zweimal privat im Haus von Dir. Hundhausen. Aus verschiedenen Gesprächen weiß ich, dass die Anregungen zu diesem Programm in hohem Maße von Herrn Beitz kamen (mit Sicherheit der Besuch bei Prof. Heuss), in enger Zusammenarbeit mit der Stadt Essen.“ (Ebd., Übers. RW)
Die Ausstellungseröffnung am 15. Dezember mit 500 Gästen einschließlich ranghoher Amts- und Würdenträger aus Stadt und Land „war sehr feierlich“, mit Ansprachen, Streichquartett und riesigen weiß-roten Blumenbuketts auf dem Podium (ebd.). Zur Pressekonferenz erschienen rund 40 Journalisten; weitere Presse-, Radio- und Fernsehinterviews für verschiedene Zeitungen und Rundfunkstationen folgten.
Beitz und Hundhausen waren sichtlich bemüht, im Verein mit der Stadt Essen ihre Überzeugungsarbeit gegenüber Polen fortzusetzen und ihren Gästen vor Augen zu führen, dass die Mehrheit der Bundesbürger einer Annäherung an Polen positiv gegenüber stehe und die nach wie vor vernehmbaren revisionistischen Töne nicht repräsentativ seien. Während sich Beitz diesmal mit dezidiert politischen Stellungnahmen zurückhielt, äußerte sich Hundhausen, nach Kozakiewicz’ Bericht, umso unverblümter. Beim Empfang im Essener Rathaus erklärte er „klar und ausdrücklich, unter Zustimmung der beiden höchsten Vertreter der Stadt [i. e. OB Wilhelm Nieswandt und Oberstadtdirektor Friedrich Wolff, beide SPD], es sei gut, dass eine Stadt wie Essen ihre eigene ‚Außenpolitik‘ betreibe ähnlich der Politik der Firma Krupp; diese Politik gegenüber Polen widersetze sich zurecht der von Bonn vertretenen Politik; man müsse endlich Schluss machen mit dem Gespenst der Hallstein-Doktrin, mit Polen diplomatische Beziehungen aufnehmen und die Grenze an Oder und Neiße anerkennen; er meint, dass durch einen weiteren Ausbau des Kulturaustauschs hilfreiche Grundlagen für eine solche Politik entstünden; er vertraut darauf, dass die gegenwärtigen Veränderungen in der Bundesregierung günstig sind, aber dass weitere positive Entwicklungen nach dem Abtritt Adenauers folgen können, was seiner Meinung nach schon bald sein wird.“ (Ebd.)
Carl Hundhausen, nach dem Zweiten Weltkrieg von der Firma Krupp beauftragt, das beschädigte Ansehen des Unternehmens wiederherzustellen, ließ seinen Charme offenkundig auch gegenüber Kozakiewicz erfolgreich spielen. Bei seinem Gast jedenfalls hinterließ er den Eindruck, „ein aufrichtiger Freund Polens und treuer Anwalt einer Annäherung zwischen der Deutschen Bundesrepublik und Polen“ zu sein, und nebenbei habe er ihm unter vier Augen anvertraut, er, Hundhausen, sei sich gar nicht so sicher, ob das kapitalistische oder das kommunistische Wirtschaftssystem das bessere sei. (Ebd.)
Nicht überall wurde so offen politisiert wie beim Empfang im Essener Rathaus. Kozakiewicz vermerkt in seinem Bericht sorgfältig, wo von „politischer“ und wo lediglich von „kultureller“ Annäherung gesprochen wurde, und beobachtet u. a., dass im Unterschied zu Essen, Hamburg und Stuttgart sich insbesondere „die Vertreter der Stadt München und des Landes Bayern Akzente politischer Natur enthielten“ (ebd.).
Stanisław Lorentzʼ ausdrücklicher Bitte entsprechend standen im Mittelpunkt seines Deutschlandbesuchs im Februar 1963 weniger offizielle Empfänge als Begegnungen mit Fachkollegen, um alte Kontakte wiederzubeleben und neue zu knüpfen. Das Interesse, das ihm während seiner Reise durch zehn bundesdeutsche Städte entgegengebracht wurde, war immens. Die im AMNW erhaltene Namensliste umfasst 40 Personen, mit denen Lorentz neben rund 160 weiteren, nicht namentlich genannten zusammentraf, und liest sich wie ein Who-is-Who der bundesdeutschen Museumslandschaft: vom Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen Kurt Martin bis zum Leiter der Ruhrfestspiele und Direktor der Recklinghauser Museen Thomas Grochowiak. Lorentz wurde überhäuft mit Kooperationsangeboten für Ausstellungen, Vorträge und Publikationsprojekte; auch bat man ihn um Hilfe bei der Suche nach Kunsthändlern, die polnische Künstler in der Bundesrepublik vertreten könnten. Die entsprechenden Schilderungen in Lorentz’ Bericht werden durch die Briefe im AMNW bestätigt.
Zwar wurden nicht alle der anvisierten Projekte realisiert; bloße Idee blieb u. a. eine für 1964 im Haus der Kunst in München vorgesehene Ausstellung, zu der es ein Pendant mit deutscher Kunst in Warschau geben sollte. Dennoch intensivierten sich die polnisch-westdeutschen Kulturkontakte im Zuge der Ausstellung und der Deutschlandreise Lorentz’ merklich. 1964 und 1965 wurden im gesamten Bundesgebiet praktisch monatlich Ausstellungen zu zeitgenössischer polnischer Kunst eröffnet, von denen einige nachweislich durch die Folkwang-Ausstellung angeregt worden waren. Vorangetrieben wurden sie zumeist von engagierten Galeristen, Museumsleitern, Kommunalpolitikern und Privatleuten, die sich in einer Mischung aus Pioniergeist, moralischem Impetus und politischem Idealismus für eine polnisch-westdeutsche Annäherung einsetzten und die Impulse, die von der Folkwang-Ausstellung ausgingen, zu nutzen wussten. Auch die Beziehungen zwischen Essen und Warschau setzten sich dank Krupp’schen Mäzenatentums fort, in Form von Ausstellungen, Vortragsreisen und Gastaufenthalten polnischer Künstler und Wissenschaftler. Die nächste Überblicksschau, auf der erstmals in größerem Umfang auch zeitgenössische polnische Plastik zu sehen war, bot die Ausstellung „Polnische Kunst heute“ in der Städtischen Kunsthalle Bochum im Winter 1964/65. Die Hoffnung allerdings, dass sich mit der kulturellen Annäherung auch die politischen Beziehungen normalisieren mögen, blieb unerfüllt.
Die Folkwang-Ausstellung, ihre Entstehungsgeschichte und ihre Begleitumstände stehen für eine politisch ebenso spannungsreiche wie kulturell fruchtbare Phase der polnisch-westdeutschen Beziehungen, in der Vieles in Bewegung geriet und offizielle Politik und inoffizielles Agieren zunehmend auseinanderdrifteten. Sie illustrieren zugleich die Unsicherheiten und Ambivalenzen, die mit dieser Dynamik einhergingen. Besonders deutlich zeigt sich dies in dem Eiertanz, den offizielle Stellen mitunter um das Verhältnis von Kultur und Politik vollführten: Einerseits sollte die Kultur der politischen Annäherung auf die Sprünge helfen und dafür herhalten, das Porzellan zu kitten, das auf dem politischen Parkett immer wieder zerschlagen wurde; auch war klar, dass der kulturelle Austausch so politisch aufgeladen war wie alles, was die deutsch-polnischen Beziehungen betraf. Andererseits wurde oft peinlichst darauf geachtet, zumindest nominell das Politische vom Kulturellen zu trennen, was die politische Brisanz der Vorgänge auf kulturellem Gebiet allerdings erst recht unterstrich. Zweifellos aber hat das vermeintlich unverfängliche Terrain von Kunst und Kultur die allgemeine Aufgeschlossenheit und Gesprächsbereitschaft gegenüber den Gästen aus Warschau im Winter 1962/63 erheblich befördert. Politische Fallstricke lauerten freilich auch hier: Ein Buchprojekt Lorentz’ über den Wiederaufbau in Polen drohte am Titel zu scheitern – die Zeit sei leider noch nicht reif, gab ihm der Verlag verlegen zu verstehen, um unter dem Titel „… in Polen“ auch Abhandlungen über Wrocław und Szczecin auf den bundesdeutschen Markt bringen zu können (Bericht Lorentz, AMNW).
Regina Wenninger, März 2016