Koliński, Mieczysław
Koliński, Mieczysław, Dr. phil., polnisch-US-amerikanisch-kanadischer Musikethnologe, ‑theoretiker und Komponist. Aufgewachsen in Hamburg. 1923-26 Studium der Musikwissenschaft an der Berliner Universität sowie Klavier und Komposition an der Hochschule für Musik. 1926-33 Assistent im Berliner Phonogramm-Archiv. *5.9.1901 Warschau, †7.5.1981 Toronto. Sohn von Antoni K. und Regina, geborene Fejgin. Aufgewachsen in Hamburg, erhält er dort seine erste musikalische Ausbildung. Früh komponiert er eigene Stücke und tritt als Pianist auch mit eigenen Kompositionen auf. 1919 spielt er in seinem ersten großen Konzertdebüt das 1. Klavierkonzert von Tschaikowsky mit dem Oldenburgischen Landesorchester. Nach dem Schulabschluss in Hamburg studiert er in Berlin an der Hochschule für Musik Klavier bei dem Pianisten Leonid Kreutzer (1884-1953) und Komposition bei dem aus Russland stammenden Komponisten Paul Juon (1872-1940). Gleichzeitig studiert er an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin Musikwissenschaft bei dem Musikethnologen Erich Moritz von Hornbostel (1877-1935), dem Musiktheoretiker Hermann Abert (1871-1927) und dem Musikwissenschaftler Arnold Schering (1877-1941), außerdem Psychologie bei Wolfgang Köhler (1887-1967), einem der Begründer der Gestaltpsychologie, und Anthropologie bei dem Ethnologen Richard Thurnwald (1869-1954). 1926-33 arbeitet er als Assistent von Hornbostel bei dem von diesem geleiteten und der Musikhochschule angeschlossenen staatlichen Berliner Phonogramm-Archiv, dem seinerzeit berühmtesten Schallarchiv (heute Teil des Ethnologischen Museums der Staatlichen Museen zu Berlin). 1930 promoviert er über „Die Musik der Primitivstämme auf Malakka“. Bei Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 verlässt er Deutschland, da er offenbar von den Rassegesetzen betroffen ist, und geht zu seinem Bruder nach Prag. Dort arbeitet er als Komponist, Pianist und beschäftigt sich mit musikethnologischen Problemen. In Zusammenarbeit mit Forschern der Northwestern University in Illinois und der New Yorker Columbia University transkribiert und analysiert er Musik-Sammlungen afrikanischer Stämme aus Surinam, Dahomey, Togo, der Ashanti-Region in Ghana, Haiti und der Kwakiutl-Indianer in Kanada, publiziert zu musiktheoretischen und ‑ethnologischen Fragen. 1938 geht er infolge der Sudetenkrise und der drohenden Liquidierung der Tschechoslowakei durch das nationalsozialistische Deutschland nach Belgien. 1939 scheitert seine geplante Auswanderung in die USA durch den Beginn des Zweiten Weltkriegs. 1940 ist er nach der Besetzung Belgiens durch die Deutschen erneut von den Rassegesetzen betroffen. 1942 kann er der Deportation entgehen, weil die Familie des Malers Frits Van den Berghe (1883-1939), dessen Tochter Edith er 1944 heiratet, ihn in Gent versteckt. Nach Kriegsende arbeitet er als Komponist und Pianist in Belgien. 1951 geht er in die USA und arbeitet in New York bei dem Musikverlag Hargail Music Press als Herausgeber und in einem Krankenhaus für Kriegsveteranen als Musiktherapeut. 1955 gehört er zu den Gründern der Society for Ethnomusicology, ist 1956/57 deren Vizepräsident und 1958/59 Präsident. 1961 nimmt er die US-amerikanische Staatsbürgerschaft an. 1961-65 ist er Herausgeber der in New York erscheinenden Studies in Ethnomusicology. 1966 geht er nach Kanada und lehrt über seine Pensionierung 1976 hinaus an der University of Toronto Musikethnologie und Akustik. 1974 nimmt er die kanadische Staatsbürgerschaft an. – Als Musikethnologe erstellte K. über zweitausend Transkriptionen von durch Feldforscher aufgenommener Musik aus Südamerika, der Karibik Afrika und Kanada. In der Musiktheorie „richtete sich sein Interesse auf Fragen der Konsonanz und Dissonanz, Tonalität, Melodie, Rhythmus, Tempo und Stimmung. Hinter seiner Forschung stand dabei die Überzeugung, dass man sich der Musik analytisch aus einer vergleichenden, überkulturellen („cross-cultural“) Perspektive nähern müsse. Entsprechend erarbeitete er Methoden und Begriffe, die eine solche Analyse erlaubten.“ (Sophie Fetthauer) Seine Kompositionen umfassen Klavier- und Kammermusik, Orchesterstücke und Ballette, in denen er auch ethnologische Musik verarbeitete.
Eigene Schriften (Auswahl):
Die Musik der Primitivstämme auf Malaka und ihre Beziehungen zur samoanischen Musik (Phil. Diss. Universität Berlin 1930), Wien 1930
Konsonanz als Grundlage einer neuen Akkordlehre = Veröffentlichungen des Musikwissenschaftlichen Institutes der Deutschen Universität in Prag, 7, Brünn 1936 (Reprint Nendeln 1975)
Suriname folk-lore. With transcriptions of Suriname songs and musicological analysis, New York 1936 (mit Melville J. Herskovits und Frances S. Herskovits)
Classification of tonal structures, illustrated by a comparative chart of American Indian, African Negro, Afro-American and English-American structures, in: Studies in Ethnomusicology, Band 1, 1961
A cross-cultural approach to metro-rhythmic patterns, in: Ethnomusicology, Band 17, Nr. 3, September 1973, Seite 494-506
Reiteration quotients. A cross-cultural comparison, in: Ethnomusicology, Band 26, 1982, Seite 85-90
Literatur:
Who’s who in world Jewry. A biographical dictionary of outstanding Jews, herausgegeben von Itzhak J. Carmin Karpman, Tel-Aviv 1978
Beverly Cavanagh: Miecyslaw Kolinski (1901-1981). In Memoriam, in: Ethnomusicology, Band 25, 1981, Seite 285-286
Robert Falck / Timothy Rice (Herausgeber): Cross-cultural perspectives on music. Essays in memory of Mieczyslaw Kolinski from his students, colleagues, and friends, Toronto 1982 (darin: Verzeichnis sämtlicher Schriften und kompositorisches Werkverzeichnis)
Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933 / International Biographical Dictionary of Central European Emigrés 1933-1945, herausgegeben von Werner Röder und Herbert A. Strauss, München und andere 1983
Albrecht Schneider: Musikwissenschaft in der Emigration. Zur Vertreibung von Gelehrten und zu den Auswirkungen auf das Fach, in: Musik im Exil. Folgen des Nazismus für die internationale Musikkultur, herausgegeben von Hanns-Werner Heister, Claudia Maurer Zenck und Peter Petersen, Frankfurt am Main 1993, Seite 187-211
The New Grove Dictionary of Music and Musicians, herausgegeben von Stanley Sadie, John Tyrrell und George Grove, 2. Auflage, London, New York 2001
Online:
Piotr Grella-Możejko: Mieczysław Koliński (2006), auf: culture.pl, https://culture.pl/pl/tworca/mieczyslaw-kolinski (mit einem Verzeichnis der wichtigsten Kompositionen)
Sophie Fetthauer: Mieczyslaw Kolinski, in: Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit, herausgegeben von Claudia Maurer Zenck und Peter Petersen, Universität Hamburg 2006, https://www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00001287
Diskografie auf discogs, https://www.discogs.com/de/artist/3680918-Mieczyslaw-Kolinski
Einspielungen zahlreicher Kompositionen auf YouTube, https://www.youtube.com/results?search_query=Mieczys%C5%82aw+Koli%C5%84ski+
Biografie auf Canadian Music Centre, https://www.musiccentre.ca/node/37234/biography
Beverley Diamond: Mieczyslaw Kolinski, auf: The Canadian Encyclopedia, https://www.thecanadianencyclopedia.ca/en/article/mieczyslaw-kolinski-emc
(alle Links wurden zuletzt im November 2019 aufgerufen)
Axel Feuß, November 2019