Witold Wirpsza – Dichter, Schriftsteller, Übersetzer

Witold Wirpsza
Witold Wirpsza

Das Leben von Witold Wirpsza ist voller Wendungen. Der spätere Autor und Übersetzer deutscher Literatur kam am 4. Dezember 1918 in Odessa zur Welt. Seine Mutter war Griechin, sein Vater ein Pole, der einer Adelsfamilie der Wappengemeinschaft Odrowąż entstammte. Wirpsza verbrachte seine Kindheit in Gdańsk (Danzig) und Gdynia (Gdingen) und wuchs anschließend in Warszawa (Warschau) auf. Schon als Jugendlicher begeisterte er sich für die Musik und gab sogar Klavierkonzerte. Diese Begabung nahm Wirpsza zum Anlass, neben dem Studium der Rechtswissenschaften an der juristischen Fakultät der Warschauer Universität das Fach Klavier an der Musikhochschule der Hauptstadt zu studieren. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde er in die polnische Armee eingezogen, tauschte das Studentenleben gegen das eines Soldaten ein und war nach der Invasion Polens im September 1939 an den Kämpfen um Oksywie (Oxhöft), eines Stadtteils von Gdingen, beteiligt.

Doch diese Episode als Soldat währte nicht lange, da Wirpsza schon am 19. September 1939 in deutsche Gefangenschaft geriet und in das Kriegsgefangenenlager Oflag Neubrandenburg kam. Danach wurde er in das Offizierslager II D Groß Born (heute Borne Sulinowo in der Woiwodschaft Westpommern) verlegt, wo er die meiste Zeit seiner Internierung  verbrachte. Aus dieser Periode sind Teile seines Briefwechsels mit seiner künftigen Frau Maria Kurecka (1920–1989) erhalten geblieben, die als feinsinnige Korrespondenz einen zärtlichen, auch intimen Austausch dokumentieren, in dem sich kaum Spuren der finsteren Zeit, dafür aber viele intellektuelle Erörterungen und trotz aller widrigen Umstände lebensbejahende Äußerungen finden.[1]

Nach der Befreiung des Kriegsgefangenlagers durch die Rote Armee zog Witold Wirpsza an der Seite der Sowjets nach Berlin und beteiligte sich an den Kämpfen um die Stadt. Zurück in Polen heiratete er 1945 Maria Kurecka. Ein Jahr später wurde ihr Sohn Aleksander geboren.[2] Nach dem Krieg befürwortete Wirpsza offen den sozialistischen Realismus und trat als Verfasser literarisch-propagandistischer Lobeshymnen auf das kommunistische System und die Macht des Volkes auf. Von 1947 bis 1956 lebte der Schriftsteller in Szczecin (Stettin), da­mals einer Stadt, die erst gerade wieder zu Polen gehörte und die Kulturschaffende auf Betreiben des da­ma­li­gen Woiwoden Leo­nard Borkowicz aufrief, sich im Rahmen der „literarischen Besiedlung“ nie­der­zu­las­sen, um die pol­nische Kultur zu stärken. Die Schriftsteller wurden damit gewonnen, dass man ihnen „schöne, ehemals deutsche Villen mit Garten“ versprach, von denen viele den Krieg unbeschadet überstanden hatten. In Szczecin arbeitete Witold Wirpsza in der Kulturabteilung des Woiwodschaftamts, beim Regionalsender des Polnischen Radios und bei der Lokalzeitung „Głos Szczeciński” (Stettiner Stimme), was ihn zu einem Protagonisten der jungen polnischen Kultur- und Kunstszene der Stadt werden ließ. In dieser Zeit entstanden unter anderem seine Gedichtbände „Sonata“ (Die Sonate) und „Stocznia“ (Die Werft), beide aus dem Jahr 1949, „Polemiki i pieśni“ (Polemiken und Lieder, 1951), „Dziennik Kożedo“ (Das Geojedo-Tagebuch, 1952) und „Z mojego kraju“ (Aus meinem Land, 1956).

1956 verließ Witold Wirpsza Szczecin. Mit dem Wegzug endete auch die sozialrealistische Episode in seinem Werk. Fortan schlug sich der Autor, obwohl er immer noch Mitglied der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) war, auf die Seite der Opposition gegen das kommunistische Regime. Er gehörte den Redaktionen der Warschauer Wochenschriften „Po prostu“ (Einfach so) und „Nowa Kultura“ (Neue Kultur) an und er arbeitete in der deutschen Abteilung der staatlichen Verlagsanstalt Państwowy Instytut Wydawniczy (PIW). 1967 erhielt Wirpsza im „Berliner Künstlerprogramm“ ein Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) und reiste nach West-Berlin, wobei es zunächst so schien, als würde er wieder nach Polen zurückkehren wollen. Doch als dann die März-Unruhen Polen 1968 in eine politische Krise stürzten, ändert sich alles für ihn. Wirpsza trat aus der PVAP aus und ging erneut auf Reisen, diesmal mit einem Stipendium nach Wien und dann weiter in die Schweiz. 1971 erschien dort sein historisch-gesellschaftlicher Essay „Polaku, kim jesteś“ (Pole, wer bist du?), der als Abrechnung mit der nationalistischen polnischen Mentalität zu verstehen ist. Wirpsza, wie es bei Jacek Bocheński nachzulesen ist, „hat sich an diversen Stellen seines Buchs den romantischen Einbildungen, den irrealen Existenzformen, dem Messianismus, dem Toten- und Märtyrerkult sowie der Vermengung patriotischer und politischer Begriffe mit religiösen gewidmet. Die polnische Literatursprache, wie sie vor allem von den Dichtern des 19. Jahrhunderts ausging, hat das Bewusstsein der Nation grundlegend und nachhaltig geprägt und prägt es bis heute, stellt Wirpsza fest.“[3]

 

[1] Die Briefe aus den Jahren 1942-1944 wurden 2015 im Verlag Zaułek Wydawniczy Pomyłka publiziert (Anm. d. Autorin).

[2] Aleksander Wirpsza ist Schriftsteller, Dichter und Übersetzer deutscher und russischer Literatur. Er veröffentlicht unter dem Pseudonym Leszek Szaruga (Anm. d. Autorin).

[3] Jacek Bocheński, Witold Wirpsza i polskie mity. Polaku, kim jesteś?, [in:) Gazeta Wyborcza vom 28.06.2010, online: https://wyborcza.pl/1,76842,8065232,Witold_Wirpsza_i_polskie_mity__Polaku__kim_jestes_.html (zuletzt aufgerufen am 18.02.2021).

Das Buch „Polaku, kim jesteś?“ machte Witold Wirpsza berühmt, aber es brachte ihm auch eine Menge Schwierigkeiten ein. Die kritische Auseinandersetzung mit Polen und seiner Bevölkerung missfiel den kommunistischen Machthabern so sehr, dass der Autor von der Zensur mit einem Druckverbot belegt wurde. Infolgedessen ließ sich der Schriftsteller dauerhaft in West-Berlin nieder. Wirpsza ging es in Deutschland gut. Er war dort ein angesehener Kenner Polens und als Kommentator für polnische Angelegenheiten gefragt. Zu seiner Bekanntheit trug die stürmische Zeit in Polens Geschichte bei, mit den Streiks, den Demonstrationen und mit der Geburtsstunde der Freiheitsbewegung. All das weckte in Deutschland großes Interesse für Polen, während Wirpsza, der den gesellschaftlichen Hintergrund beleuchtete, zum Mittler zwischen Deutschen und Polen wurde, indem er dazu beitug, die alten Klischees über das Land an der Weichsel allmählich zu verwischen. Das besondere Verständnis für Polen, dass in den 1970er Jahren in der Bundesrepublik aufkeimte, war Witold Wirpsza wesentlich zu verdanken. Der Autor pflegte auch einem regen intellektuellen Austausch mit seinen deutschen Fachkollegen und stand unter anderem in Briefwechseln mit Günter Grass, Karl Dedecius und Heinrich Böll. In Konflikten setzte er sich auch als Vermittler zwischen deutschen und polnischen Intellektuellen ein. Das Leben in der Emigration und das Druckverbot in der Heimat wirkten sich jedoch auch negativ aus. Infolge seiner Abwesenheit geriet er aus dem Fokus der polnischen Leserinnen und Leser und wurde von vielen als Schriftsteller vergessen. Seine Gedichte wurden von Verlagen in Polen nur im „zweiten Umlauf“ (drugi obieg) publiziert und zwei seiner wichtigen Bände, nämlich „Cząstkowa próba o człowieku“ (Teilstudie über den Menschen) und „Spis ludności“ (Die Volkszählung), erblickten das Licht der Welt erst 20 Jahre nach seinem Tod.[4] Der Roman „Sama niewinność“ (Die Unschuld selbst) aus dem Jahr 1975, dessen Manuskript in der Bibliothek des Polnischen Museums im schweizerischen Rapperswil aufgefunden wurde, musste bis 2017 auf seine Buchpremiere warten.

Einen großen Stellenwert im Witold Wirpszas Schaffen nehmen Übersetzungen deutscher Literatur ins Polnische ein, die er zusammen mit seiner Frau Maria Kurecka erarbeitet hat. So entstand ein Team zweier außergewöhnlicher Übersetzer*innen. Leszek Szaruga erinnert sich wie folgt an seine Eltern: „Sie waren beide mehrsprachig. Vor uns Kindern stritten sie auf Deutsch, doch als ich und meine Schwester anfingen zu ‚kapieren‘, worum es ging, wechselten sie ins Französische. Beide sprachen auch Englisch und Russisch (Vater seit seiner Kindheit – seine Mutter, eine Griechin aus Odessa, hat es nie geschafft, Polnisch zu lernen, so dass Russisch zu Hause ihre gemeinsame Sprache war), zudem hat Mutter Italienisch und Dänisch gelernt. Nicht unwichtig war, dass beide dank ihrer Schulbildung Latein sehr gut beherrschten. Letztlich haben beide an Übersetzungen Gefallen gefunden – Mutter mehr aus Selbstzweck, Vater sah darin vor allem eine Art Werkstattübung, die ihm erlaubte, seinen polnischen Sprachschatz zu testen: mit einigen Ausnahmen übersetzten sie Texte, die ihnen am Herzen lagen, auch wenn es hin und wieder natürlich Arbeiten gegeben hat, besonders bei Mutter, die sie des Geldes wegen ausgeführt haben.“[5] Die Eheleute übersetzten unter anderem „Doktor Faustus“ von Thomas Mann, „Der Tod des Vergils“ von Hermann Broch und Friedrichs Schillers „Maria Stuart“. Einfluss auf die Auswahl der Texte hatte zweifelsohne auch Wirpszas musikalische Ader, so dass er mit seiner Frau auch die Biographie „Johann Sebastian Bach“ von Albert Schweitzer und den Mozart-Roman „Wolfgang Amadé“ von Valerian Tornius übersetzte. 1967 wurde das gemeinsame Werk der beiden mit dem Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzungen gewürdigt. Wirpsza übertrug auch Werke junger, kaum bekannter polnischer Autoren und war somit dafür verantwortlich, ihnen in der Bundesrepublik zu breiter Beachtung zu verhelfen. Außerdem hat er in der deutschen Presse regelmäßig polnische Neuerscheinungen besprochen.

Außerdem hielt Wirpsza Poetikvorlesungen an der Technischen Universität Berlin. Darüber hinaus hat er mit seiner Frau auch mit der Emigrantenpresse wie der Pariser „Kultura” und der Berliner Zeitschrift „Archipelag” zusammengearbeitet. Witold Wirpsza starb am 16. September 1985. Die Beisetzung fand auf dem Berliner Friedhof Ruhleben statt. Später wurde sein Leichnam nach Warschau überführt. Seit 2005 werden die Werke von Witold Wirpsza sukzessive vom Mikołowski-Institut in Mikołów (Instytut Mikołowski) veröffentlicht, was das Interesse an der Person und am Schaffen des ein wenig in Vergessenheit geratenen Dichters und Schriftstellers wiederbelebt hat. Bis 2018 kamen 18 seiner Texte heraus, wobei einige von ihnen als Erstausgaben publiziert wurden. Auch Literaturkritiker*innen entdecken den Autor Witold Wirpsza allmählich wieder, wobei nicht wenige Wirpsza wegen seines originellen Stils in eine Reihe mit den größten Persönlichkeiten der polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts stellen, etwa mit Tadeusz Różewicz, Miron Białoszewski oder Zbigniew Herbert.

 

Monika Stefanek, Februar 2021

 

[4] Witold Wirpsza, Beitrag auf der Internetseite Culture.pl, online: https://culture.pl/pl/tworca/witold-wirpsza (zuletzt aufgerufen am 18.02.2021).

[5] Zitiert nach: Leszek Żuliński, Wojna i miłość, online: https://latarnia-morska.eu/en/port-literacki/1978-listy-z-oflagu-witolda-wirpszy (zuletzt aufgerufen am 18.02.2021).