Polnische Zwangsarbeitende in Witten 1940–1945
Die nationalsozialistische Kriegswirtschaft erforderte insbesondere ab 1942/43 immer mehr Arbeitskräfte für die Bewältigung der zunehmenden Rüstungsproduktion. Das NS-Regime bediente sich dabei vor allem ausländischer Arbeitskräfte. Ob KZ-Insassen, zivile Arbeiterinnen und Arbeiter aus dem Ausland oder auch Kriegsgefangene – Millionen Menschen mussten während des Zweiten Weltkrieges für NS-Deutschland Zwangsarbeit leisten. Nach aktuellem Forschungsstand befanden sich im heutigen Wittener Stadtgebiet während des Krieges insgesamt etwa 24.900 Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus allen besetzten Gebieten.[1] Im Durchschnitt arbeiteten diese Personen rund 15 Monate lang in Witten und machten einen Großteil der städtischen Arbeitskraft aus. Zu Beginn des Jahres 1945 lässt sich beispielsweise von einem Anteil von circa 55 % an Zwangsarbeitenden in Witten ausgehen. Die unterschiedlichen Einsatzbereiche der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter erforderten zudem eine Vielzahl an Unterkünften – zwischen 230 und 250 Zwangsarbeiterlager verschiedener Größen und Zielgruppen soll es zu jener Zeit in der Stadt gegeben haben.[2]
Das KZ-Außenlager in Witten-Annen
Das größte und für die NS-Rüstungsproduktion wohl bedeutendste der Wittener Lager war das Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald, welches 1944 für den Einsatz von KZ-Insassen im montanindustriellen Unternehmen Annener Gußstahlwerk, kurz AGW genannt, im Wittener Stadtteil Annen eingerichtet wurde. Am 17. September 1944 traf der erste Transport für das AGW mit 700 Häftlingen aus dem KZ Buchenwald ein. Unter den namentlich bekannten Lagerinsassen sollen sich 71 Polen befunden haben.[3] Das Lager glich in seinem Aufbau, der Ausstattung sowie den Lebensbedingungen vielen anderen Außenkommandos von Konzentrationslagern zu jener Zeit: Es bestand unter anderem aus mehreren Unterkunftsbaracken sowie einem Appellplatz und wurde zur Fluchtvermeidung von einem doppelten Stacheldraht gesichert. Die Ausstattung war dürftig und beschränkte sich weitestgehend auf Doppelstockbetten. Außerdem waren die Waschbaracken nicht fertig ausgebaut, sodass sich die Lagerinsassen zum Teil unter freiem Himmel waschen mussten.[4] Die KZ-Häftlinge waren auch im Außenlager Witten-Annen von Gewalt und Schikane durch Funktionshäftlinge und SS-Wachen sowie von Hunger und Erkrankungen aufgrund von Mangelernährung, Kälte und ungenügenden hygienischen Bedingungen betroffen.[5]
Arbeit im Annener Gußstahlwerk
Das Annener Gußstahlwerk galt als dominierender Industriebetrieb in Witten-Annen und war eines von insgesamt sechs zur Ruhrstahl AG zugehörigen Werken.[6] Für die Rüstungsherstellung während des Zweiten Weltkrieges war es ebenfalls ein bedeutender Betrieb. Neben Stahlgussteilen für den Flugzeugbau wurden hier unter anderem auch Panzerplatten für Kriegsschiffe sowie Halbfabrikate für Waffen hergestellt.[7] Für die Rüstungsproduktion wurden insbesondere viele weniger qualifizierte Arbeitskräfte benötigt, die in Form von ausländischen Zwangsarbeitenden unter Anleitung von deutschen Vorarbeitern an Drehherdöfen, Fräs- oder Bohrmaschinen eingesetzt wurden.[8] Außerhalb der Halle, in der die Lagerinsassen die Zwangsarbeit verrichteten, standen SS-Wachen zur Patrouille und bestraften ggf. Ungehorsam oder verlängerte Pausen mit Gewalteinwirkung. Aufgrund der schweren körperlichen Arbeit und den schlechten Lebensbedingungen im Lager waren Arbeitsunfälle keine Seltenheit. Die im AGW zu verrichtende Arbeit war für die KZ-Häftlinge auf Dauer sowohl physisch als auch psychisch kräftezehrend – dennoch weist der Historiker Manfred Grieger darauf hin, dass aus der Perspektive vieler Zwangsarbeitenden „(…) nicht die Rüstungsarbeiten, sondern der Hunger, die Kälte und die entwürdigenden Repressionen durch Vorarbeiter, SS-Männer und einen Teil der Funktionshäftlinge im Vordergrund“[9] gestanden haben.
[1] Vgl. Klein, Ralph: Das KZ-Außenlager in Witten-Annen, S. 35.
[2] Ebd.
[3] Vgl. Grieger, Manfred: Das Außenlager >AGW<, S. 210.
[4] Vgl. ebd., S. 209.
[5] Vgl. Klein, Ralph, S. 54 f.; vgl. Völkel, Klaus: „Hier ruhen 22 Genossen, zu Tode gequält…“, S. 25 ff.
[6] Die zwischen 1930 und 1963 bestehende Ruhrstahl AG war eine Tochtergesellschaft der Vereinigten Stahlwerke AG, einem deutschen Montankonzern mit wichtiger Rolle bei der Aufrüstung in der Zeit des Nationalsozialismus. Neben dem AGW gehörten die Henrichshütte in Hattingen, die Werke Oberkassel und Gelsenkirchen der Rheinisch-Westfälischen Stahl- und Walzwerke AG, das Gussstahl-Werk Witten sowie das Werk Brackwede der Vereinigten Press- und Hammerwerke Dahlhausen-Bielefeld zu der Ruhrstahl AG.
[7] Vgl. Grieger, Manfred, S. 205 f.
[8] Vgl. ebd., S. 212; Vgl. Klein, Ralph, S. 45.
[9] Grieger, Manfred, S. 213.
Ausmaße der Zwangsarbeit in Witten
Neben der Arbeit im Annener Gußstahlwerk wurden weitere Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in unterschiedlichen Bereichen, sei es in der Landwirtschaft, in handwerklichen und weiteren rüstungsproduzierenden Betrieben oder auch in Privathaushalten, eingesetzt. Den größten Teil der Zwangsarbeitenden stellten die sogenannten „Ostarbeiterinnen“ und „Ostarbeiter“ mit circa 50 % aller in Witten tätigen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern dar.[10] Darüber hinaus gab es sowohl sowjetische Kriegsgefangene als auch italienische Militärinternierte, die ebenfalls Zwangsarbeit in Witten verrichtet haben.[11] Weitere Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, jedoch in deutlich geringerer Anzahl in Witten eingesetzt, stammten aus Belgien, den Niederlanden, Frankreich und der Tschechoslowakei.[12]
Kurze Zeit nach dem Überfall auf Polen wurden polnische Zivilarbeiterinnen und Zivilarbeiter sowie Kriegsgefangene unter Zwang als Arbeitskräfte nach Witten herangezogen und überwiegend in landwirtschaftlichen Betrieben eingesetzt.[13] Den größten Anteil der in Witten beschäftigten polnischen Zwangsarbeitenden machten zivile Arbeitskräfte aus. Anhand der neuesten Forschungserkenntnisse lässt sich eine Anzahl von mindestens 391 polnischen Zwangsarbeitenden in unterschiedlichen wirtschaftlichen Betrieben im heutigen Wittener Stadtgebiet nachvollziehen.[14] Hinzu kommen die 71 namentlich bekannten polnischen KZ-Häftlinge, die 1944 mit dem ersten Transport in das KZ-Außenlager Witten-Annen deportiert und zur Arbeit im AGW eingesetzt wurden. In der durch den Historiker Klaus Völkel verfassten Gedenkschrift für die Opfer der Zwangsarbeit in Witten wird auf eine Mindestanzahl von 700 polnischen zivilen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern hingewiesen.[15] Da polnische Zwangsarbeitende aufgrund des vermehrten Einsatzbereiches in der Landwirtschaft auch oftmals in Privathaushalten eingesetzt wurden, kann davon ausgegangen werden, dass die tatsächliche Anzahl der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus Polen höher liegt.
Von den für die NS-Zwangsarbeit in Witten nachgewiesenen Todesfällen können 51 Tode polnischen Zwangsarbeitenden zugeordnet werden.[16] Bis zum Ende des Krieges sind insgesamt etwa 5 % aller in Witten tätigen Zwangsarbeitenden gestorben.[17]
[10] Vgl. Klein, Ralph:, S. 35.
[11] Vgl. ebd., S. 26 ff.; S. 31.
[12] Vgl. ebd., S. 36 ff.
[13] Vgl. Völkel, Klaus, S. 16.
[14] Vgl. Klein, Ralph, S. 36 ff.
[15] Vgl. Völkel, Klaus:, S. 21.
[16] Davon 34 aus den Wittener Grabstätten identifizierte polnische Zwangsarbeitende sowie 17 verzeichnete Todesfälle von polnischen Zwangsarbeitenden mit unbekannter Grabstätte; vgl. ebd., S. 66 ff.
[17] Vgl. Klein, Ralph, S. 35.
Erinnerungskultur im Wandel der Zeit
Eine systematische Aufarbeitung der NS-Zwangsarbeit hat in Deutschland während der ersten vier Jahrzehnte nach Kriegsende nicht stattgefunden. Über den Einsatz ausländischer Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter wurde kaum gesprochen – das Thema rückte in den Hintergrund und die historische Forschung konzentrierte sich auf andere Aspekte des Nationalsozialismus und des Kriegsverlaufs. Erst ab den 1980er Jahren beschäftigten sich Historikerinnen und Historiker zunehmend mit der Thematik, sodass diese langsam Eingang in das kollektive Gedächtnis fand.
Auch in Witten waren die ersten Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges von einem Be- und Verschweigen der nationalsozialistischen Stadtgeschichte geprägt, in denen das Thema der Zwangsarbeit und die Geschichte des KZ-Außenlagers in Witten-Annen nicht aufgearbeitet wurden – es setzte ein sogenanntes kommunales Vergessen ein. Beispielsweise blieben Nachforschungen ehemaliger Zwangsarbeitenden, die in den ersten Jahren nach Kriegsende nach Witten zurückkamen, um das Geschehene zu verarbeiten und das Schicksal ihrer Peiniger zu erfahren, erfolglos: Der Großteil der befragten Wittener Bevölkerung konnte oder wollte sich an die Ereignisse rund um das KZ-Außenlager nicht erinnern – der Wille nach einem Schlussstrich unter die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit trat in diesem Beispiel deutlich zum Vorschein. Dass die Wittener Bevölkerung jedoch nichts von den Zwangsarbeitenden gewusst habe – davon könne laut dem Historiker Ralph Klein, der zur NS-Zwangsarbeit in Witten geforscht hat, nicht die Rede sein. „Alle haben davon gewusst“[18], so lautet die Schlagzeile eines Presseartikels zu der im Jahre 2015 erschienenen Studie des Historikers über das KZ-Außenlager in Witten-Annen. Klein weist darauf hin, dass die Wittener Bürgerinnen und Bürger in den Kriegsjahren immer wieder mit den Zwangsarbeitenden in Kontakt kamen – entweder durch die Arbeit selbst oder auf dem Weg von den Lagern zu den Einsatzorten:
„Die Anwohner(innen) konnten die Lager-Insassen, viele von ihnen Kollegen, täglich den rund 600 Meter langen Weg vom Lager (…) zum Haupteingang der Ruhrstahl AG in der Stockumer Straße entlanggehen sehen. Das Werk lag im Zentrum des Ortsteils, nahe seines Bahnhofs und seines Marktplatzes. Die evangelische und katholische Kirche, Postamt und Volksschule waren nahe bei. Die Stockumer Straße war von Gaststätten, Geschäfts- und Wohnhäusern gesäumt.“[19]
Trotz des Wissens um die Zwangsarbeitenden und das KZ-Außenlager blieb die Aufarbeitung ihrer Geschichte lange Zeit aus. Vielmehr beschränkte sich die spärliche Auseinandersetzung mit den beiden Themen überwiegend auf die notwendigen strafrechtlichen Verfolgungen insbesondere der Lagerführung, was auf einer bürokratischen und juristischen Ebene behandelt wurde. Ansonsten wurden einzelne Baracken des ehemaligen Lagers mit der Genehmigung des Wittener Bauamtes ab dem Sommer 1945 zu Räumlichkeiten eines Kindergartens umfunktioniert. Mit der Zeit wurden die Baracken nach und nach abgerissen und auf Teilen des ehemaligen Lagergeländes entstanden zunehmend Wohngebäude oder Parkplätze.[20]
Erst 1984 riefen die Nachforschungen einer 10. Klasse des Wittener Albert-Martmöller-Gymnasiums jenen Teil der NS-Geschichte wieder in das Bewusstsein der Stadt. Als Antwort auf die Arbeit der Schulklasse beschloss die Stadt Witten ein Jahr später die Errichtung einer Gedenktafel zur Erinnerung an das KZ-Außenlager und dessen Insassen:[21]
„Auf diesem Gelände befand sich vom September 1944 bis April 1945 ein Aussenkommando des Konzentrationslagers Buchenwald. An die hier inhaftierten Menschen und an die an ihnen begangenen Verbrechen soll diese Gedenkstätte erinnern.“ (siehe Bild 3)
2013 kamen zusätzlich zwei weitere Tafeln hinzu, die über die NS-Zwangsarbeit im Stadtgebiet informieren (siehe Bild 4 & 5). Sowohl der Gedenkstein als auch die Informationstafeln stehen heute auf der restlichen Fläche des ehemaligen Lagergeländes, die seit 1992 unter Denkmalschutz steht (siehe Bild 1 & 7). Bis heute konnte jedoch, nicht zuletzt aus finanziellen Gründen, die Einrichtung einer zentralen Gedenkstätte an dem Ort nicht realisiert werden.
Natalia Kubiak, Januar 2020
[18] Vgl. „Alle haben davon gewusst“, in: https://www.waz.de/staedte/witten/historiker-alle-haben-davon-gewusst-id10974757.html, zuletzt abgerufen am 30.12.2019.
[19] Klein, Ralph S. 19.
[20] Vgl. ebd., S. 87 ff.
[21] Vgl. ebd., S. 149 f.
Literatur:
Grieger, Manfred: Das Außenlager >AGW<. KZ-Häftlinge im >Annener Gußstahlwerk< in Witten, in: Schulte, Jan Erik (Hrsg.), Konzentrationslager im Rheinland und in Westfalen 1933-1945, Paderborn 2005, S. 205-214.
Klein, Ralph: Das KZ-Außenlager in Witten-Annen. Geschichte, städtebauliche Nutzung und geschichtspolitischer Umgang seit 1945, Berlin 2015.
Völkel, Klaus: „Hier ruhen 22 Genossen, zu Tode gequält...“: Gedenkschrift für die Opfer der Zwangsarbeit in Witten 1941-1945, Bochum 1992.
Presseartikel:
Kopps, Johanns: Historiker: „Alle haben davon gewusst“, in: WAZ, https://www.waz.de/staedte/witten/historiker-alle-haben-davon-gewusst-id10974757.html, zuletzt abgerufen am 06.01.2020.
Schild, Susanne: Häftling 81490 erinnert an das KZ in Annen, in: WAZ, https://www.waz.de/staedte/witten/haeftling-81490-erinnert-an-das-kz-in-annen-id8415234.html, zuletzt abgerufen am 06.01.2020.