Mia Raben – Journalistin und Autorin

Mia Raben, 2022
Mia Raben, 2022

Mia Rabens Familiengeschichte ist komplex: Ihr Vater stammt aus Hamburg, studierte Medizin und interessierte sich für die Länder des Ostblocks. Beeindruckt von Willy Brandts Kniefall beschloss er 1972 gemeinsam mit einem Studienfreund seine Famulatur – ein damals viermonatiges Arztpraktikum – in Polen zu machen. So kam er nach Łódź und lernte dort auf einer Party eine sprachbegabte und kunstinteressierte Polin kennen, die fließend Deutsch sprach und gerade ihre Ausbildung zur Tonmeisterin machte. Dabei handelt es sich um eine spezielle Ausbildung in Polen, die dazu befähigen soll in Film und Theater Musikregie zu führen. Dazu zählt ein inhaltliches Mitbestimmungsrecht der musikalisch ausgebildeten Person, das so in Deutschland kaum existiert. Kurz gesagt: Angehende Tonmeisterin und angehender Arzt verliebten sich ineinander. Da passte es nicht gut, dass er zurück nach Hamburg musste. Nun konnte sich das Paar nur treffen, wenn er ein 24-Stunden- Besuchs-Visum für Ostberlin erhielt. Das war umständlich und ermöglichte kein gemeinsames Leben. Also heirateten Danuta und Ralph und gründeten in Hamburg eine Familie. Mia Raben wurde 1977 geboren, ihr Bruder kam ein Jahr früher auf die Welt. Komplex wurden die Verhältnisse, als sich die Eltern trennten und neu heirateten. So hat Mia Raben einen jüngeren Halbbruder mütterlicherseits, einen deutlich jüngeren Halbbruder väterlicherseits, sowie insgesamt vier Stiefgeschwister aus den früheren Ehen der neuen Partner ihrer Eltern.

„Als mein Bruder und ich klein waren, sprachen meine Eltern zu Hause nur Deutsch“, erinnert sich Mia Raben. Ihre Mutter war ja frisch nach Hamburg gekommen und wollte den Kindern den Start im Kindergarten erleichtern. „Sie hat das bei unserem jüngeren Halbbruder, den sie zehn Jahre später bekam, dann anders gemacht, weil sie da schon wusste, dass man sonst die Sprache verliert.“ Plötzlich wurde zuhause also Polnisch gesprochen, was Mia Raben so kommentiert: „Da war ich aber schon zehn Jahre alt und ich versuchte dann, so viel wie möglich aufzuschnappen, weil es für mich auch eine Art war, meiner Mutter näher zu kommen. Ich war eine Zeit lang recht wehmütig, wenn ich mir ansah, dass mein kleiner Bruder die polnische Sprache einfach so in die Wiege gelegt bekommen hatte“.

Mia Raben bemüht sich auch um die polnische Sprache. Vor allem die häufigen Besuche bei der Verwandtschaft in Łódź oder an der Ostsee in der Nähe von Puck motivierten die Heranwachsende. Gern erinnert sich Raben an die großen, lauten, heiteren Treffen von Familie und Freunden. Nach dem Abitur ging sie Mitte der 1990er nach Krakau, machte einen Sprachkurs und begann „richtig Polnisch zu lernen“.

Ihre polnische Herkunft hat Mia Raben immer als einen Schatz gesehen, den sie irgendwie heben muss. Je besser sie Polnisch verstand und sprechen konnte, desto wichtiger wurde es für ihre Arbeit. Nach dem Sprachkurs in Krakau machte sie ein Praktikum beim „Pinneberger Tageblatt“, einer Lokalzeitung am Rande Hamburgs. Den Tipp hatte sie von einer Bekannten ihres Vaters, die sie als großartige Journalistin erinnert: „Schreib über die freiwillige Feuerwehr, da lernst du das Handwerk.“ Sie sagte auch: „Studiere nicht Journalismus. Studiere ein Fach. Damit du etwas weißt.“

 

Mia Raben wollte seit sie denken kann, „etwas mit Sprache machen“. Sie machte einen Sprachkurs in Spanien und ging dann nach Amsterdam, um dort Spanisch, Europarecht und Politikwissenschaften zu studieren. Niederländisch lernte sie bei der Gelegenheit natürlich ebenfalls. Anschließend erhielt sie einen der begehrten Plätze an der Berliner Journalistenschule und vertiefte sich in das Handwerk ihrer Zunft. Gerne erinnert sie sich an ihren Mentor Christian Bommarius: „Er ist nicht nur ein messerscharfer Analytiker des politischen Zeitgeschehens, sondern auch ein literarischer Mensch. Als ich ihm sagte, dass ich vorhätte, nach Warschau zu gehen, um dort als freie Korrespondentin zu arbeiten, sagte er „Das ist großartig!“, und schenkte mir die dicke Fischer Taschenbuchausgabe von Witold Gombrowiczs Tagebüchern.“

Während ihrer Zeit in Warschau fühlte sich Mia Raben manchmal als Hochstaplerin, die nicht so polnisch ist, wie sie behauptet. Sie sagt: „Es war ein Herantasten an dieses mir auf die eine Art so vertraute und gleichzeitig fremde Land.“ Obwohl die Menschen ihr meist voller Wohlwollen begegneten und sich freuten, dass Mia Raben Polnisch lernte – sie selbst schämte sich, weil sie dachte, sie müsste es längst besser sprechen. Als wäre es ihre Schuld, dass in ihrer Kindheit zu Hause nur Deutsch gesprochen worden war. Vielleicht lag es auch an dem weniger positiven Polenbild, das sie in Deutschland kennengelernt hatte: „Auf Polen und alles Polnische reagierte man in Deutschland selten mit wahrhaftigem Interesse, mit Neugier oder Wohlwollen, sondern eher mit dieser sonderbaren Mischung aus Betroffenheit und Mitleid, die mir als Kind sehr unangenehm war, daran erinnere ich mich noch genau.“ Laut Mia Raben hat sich das glücklicherweise an manchen Stellen geändert. Aber für komplett überwunden hält sie die abwertenden Indoktrinationen aus der Nazizeit noch nicht: „Die Fabeln vom „slawischen Untermenschen“ oder dem „Bauernvolk“, dessen Arbeitskraft es auszubeuten gilt, haben viel Schaden angerichtet.“ Ihre Sicht auf die Aufarbeitung der Nazi-Zeit in Deutschland hat Mia Raben 2022 in einem kritischen Text formuliert. Im gleichen Literatur-Blog publizierte sie auch ihr autobiografisches Essay „Wovon wir sprechen, wenn wir Versöhnung sagen“, indem sie sich mit ihrer Beziehung zu Polen und Deutschland auseinandersetzt.

Doch zurück nach Warschau in den Nuller-Jahren. Mia Raben erlebt sich hier keineswegs nur als fremd und beschämt, sondern oft auch als leicht und inspiriert. Beschwingt von der Lust am Kennenlernen, Entdecken und Erzählen erlebt sie Warschau als Goldgrube. Die spannenden Stoffe schienen an den Straßenecken auf sie zu warten. Sie schreibt über Milchbars, über die Orangene Revolution in der Ukraine, über Auschwitz, über die Kaczyński-Zwillinge. Dabei hat sie jedoch immer wieder das Gefühl, das Wesentliche nicht beschrieben zu haben. Sie findet, dass die journalistische Form nicht ausreicht, um ihre Eindrücke, Beobachtungen und auch eben subjektive Assoziationen und Mutmaßungen festzuhalten.

Sie beginnt kurze Geschichten zu schreiben, in denen sie reale Ereignisse und Erlebnisse weiterspinnt. Es entsteht ein ganzer Fundus von knappen Erzählungen, die auf die eine oder andere Weise alle mit dem Systemwechsel von 1989 zusammenhängen. Gleichzeitig arbeitet sie tagsüber journalistisch, schreibt beispielsweise über den Skandal um die sogenannte Wildstein-Liste oder über die „gefühlte Nachbarschaft“ zwischen Polen und Deutschland.

 

Mia Raben freundet sich mit einer polnischstämmigen Amerikanerin an. Sie wohnen zusammen, erkunden die Stadt, gehen in Museen, Clubs und Theater oder erleben eine Party bei Sławomir Sierakowski, dem Gründer und Chefredakteur der „Krytyka Polityczna“, den Mia Raben kurz vorher für die „taz“ interviewt hatte. Die Party fand in einer leerstehenden Villa im Stadtteil Praga am Ostufer der Weichsel statt. Manche der noch zurückgelassenen Möbel, Lampen, Teppiche hatte der Gastgeber im Garten platziert, als sei dort ein Salon. Dieses Bild prägte sich Mia Raben ein. Es symbolisiert für sie „die unglaubliche Kreativität und die Lust an der Freiheit der Polen.“ Mia Raben gewinnt den Eindruck, dass in Polen – anders als in Deutschland – die Freiheit wirklich geliebt wird. Sie nennt diese Liebe „libidinös aufgeladen“ und sieht in ihr eine Liebe zum Menschen, die sie sehr anziehend findet. In ihren Augen sollten sich die Menschen in Deutschland etwas mehr daran orientieren, um ihren Hang zu Strenge und Konformität auszugleichen, der Mia Raben manchmal gruselt.

2007 zieht Mia Raben zurück nach Hamburg, bekommt zwei Söhne und arbeitet in Festanstellung in einer PR-Agentur, bevor sie dem Textergewerbe den Rücken kehrt und zu den Zeitschriften „Nido“ und „Neon“ wechselt. „Neon war das coolste Magazin Deutschlands“, sagt Mia Raben lächelnd. „Und Nido war das Magazin für coole Eltern.“ Gern erinnert sie sich an diese „tolle Zeit“ zurück, an die vielen Selbstversuche mit ihren Kindern: Schnitzen im Wald, Klopse kochen nach Lilly Bretts Roman „Chuzpe“, Berliner selber machen nach einem polnischen Rezept. Mia Raben bedauert sehr, dass es beide Magazine nicht mehr gibt und Gruner & Jahr „ausgeweidet wird wie ein erschossener Hirsch.“

Mia Raben schreibt weiter literarisch, „wie heimlich nebenbei“. Nur wenig davon bekommen andere zu lesen. Das ändert sich, als sie zur Romanwerkstatt der Bayerischen Akademie des Schreibens eingeladen wird. Jetzt nimmt sie sich selbst als literarische Autorin erstmals wirklich wahr. Die Schriftstellerin Ulrike Draesener erzählt ihr dann vom Masterstudiengang Kreatives Schreiben in Leipzig, wohin sich Mia Raben erfolgreich bewirbt. Ihre Masterarbeit hat sie vor einem Jahr abgegeben. Diese Arbeit ist die Grundlage für den Roman „Fallende Steine, die sich der Schwerkraft widersetzen“ an dem Mia Raben arbeitet. Im Dezember 2022 hat sie für den Stoff ein Recherchestipendium der Hamburger Kulturbehörde und des Hamburger Literaturhauses erhalten. Mit dem Geld will sie nach Łódź in die Heimat ihrer Mutter reisen und zur polnischen Textilindustrie recherchieren.

 

Anselm Neft, Februar 2023

 

 

Instagram-Account von Mia Raben:

https://www.instagram.com/miakolumna