Marcel Reich-Ranicki
Auf diesen Augenblick hat Marcel Reich-Ranicki 69 Jahre gewartet. Als er an der Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin im Jahre 1938 Germanistik studieren wollte, wurde er aus politischen und antisemitischen Gründen abgelehnt. Die Rechtsnachfolgerin der Universität, die Humboldt-Universität in Berlin, fand erst 2007 die passenden Worte und Form der Entschuldigung. Am 16. Februar 2007 wurde Marcel Reich-Ranicki die Ehrendoktorwürde der Humboldt-Universität verliehen.
„Ich nehme diesen Preis nicht an!“ – wie immer kritisch, wie immer eindeutig und wie immer hart im Urteil, sprach Marcel Reich-Ranicki diese Worte beim Verleih des „Deutschen Fernsehpreises“ im Jahre 2008. Ganz spontan bat der damals 88 Jährige am Rednerpult vor Hunderten von Gästen im Saal und einem Millionenpublikum vor den Fernsehern, um Entschuldigung und Nachsicht, aber der „Blödsinn, den wir hier heute Abend zu sehen bekommen haben“, zwinge ihn, die Auszeichnung abzulehnen.
Marcel Reich-Ranicki ist 92 Jahre alt, als er am 27.01. 2012, dem Holocaustgedenktag, als Zeitzeuge vor dem Deutschen Bundestag spricht. Auch hier kritisch, auch hier literarisch, auch hier klar und deutlich. Er stellt sich allerdings nicht als Zeitzeuge, sondern als Überlebender des Warschauer Ghettos vor und schildert in seiner langen Rede einen einzigen Tag im Ghetto, den Tag, an dem die „Umsiedlung“ des Ghettos befohlen wurde. Erschreckend genau, einfach, glasklar, scharf und schmerzvoll vermittelt er die Stimmung und das unvorstellbare, von der SS verbreitete Grauen im Warschauer Ghetto. „Was die ‚Umsiedlung‘ der Juden genannt wurde, war bloß eine Aussiedlung – die Aussiedlung aus Warschau. Sie hatte nur ein Ziel, sie hatte nur einen Zweck: den Tod“, sagte Marcel Reich-Ranicki als Schlusswort seiner Rede.
Adam Gusowski, Dezember 2013