LOT in Tempelhof

Am 22.11.1982 entführte Verkehrsmaschine der LOT nach der Landung in Tempelhof (West-Berlin). Einer der Passagiere wird auf dem Rollfeld von der Polizei nach Waffen durchsucht.
Am 22.11.1982 entführte Verkehrsmaschine der LOT nach der Landung in Tempelhof (West-Berlin). Einer der Passagiere wird auf dem Rollfeld von der Polizei nach Waffen durchsucht.

Auch in Polen kursierten Witze über die vielen Flugzeugentführungen: „Ein Passagier steigt in Warszawa (Warschau) in ein Flugzeug der LOT. Vor dem Start fragt er den Piloten, wohin das Flugzeug fliegen werde. ‚Nach Wrocław, wie geplant‘, so die schnelle Antwort des Piloten. Der Passagier verzieht leicht das Gesicht und erwidert: ‚Ja, ja. Die anderen drei Piloten haben das gleiche gesagt und ich bin jedes Mal in Tempelhof gelandet.‘“

Man mag über diese Witze schmunzeln, doch hinter den Entführungen verbargen sich Schicksale, die Ausdruck der politisch und wirtschaftlich schwierigen Lage in Polen waren. Die größte Welle der Entführungen fällt auf die Jahre kurz vor und nach der Einführung des Kriegsrechtes in Polen. Allein 1981 wurden zehn polnische Flugzeuge entführt. Viele Menschen riskierten ihr Leben, ihre Existenz und ihre Zukunft, um aus dem sozialistischen Polen zu fliehen. Es waren Einzeltäter, ganze Familien, befreundete Gruppen, polnische Piloten und sogar die in den 80er Jahren zur Flugsicherung eingesetzten bewaffneten Beamten.

Es ist Freitag, der 30. April 1982, als in Warszawa 54 Personen ein Flugzeug des Typs An-24 besteigen - eine LOT-Maschine nach Wrocław (Breslau). 36 von ihnen kennen das Wunschziel des Fluges, weil sie in den Plan, das Flugzeug nach Nürnberg zu entführen, eingeweiht sind. Sie sind nicht bewaffnet, dafür aber gut vorbereitet. Manche von ihnen sind schon mehrmals die Strecke Warszawa-Wrocław geflogen, um die Situation an Bord kennen zu lernen. So erfuhren sie, in welchem Bereich des Flugzeuges die zwei Milizbeamten in Zivil positioniert sind. (Anfang der 80er Jahre wurde es aufgrund der Häufung von Flugzeugentführungen Standard, Beamte der Staatssicherheit und Soldaten einer Spezialeinheit an Bord der Flugzeuge einzusetzen.) Die Entführer kennen ebenfalls den Arbeitsablauf der Flugbegleiter und der Piloten. Das Datum, der 30. April, ist geplant und bewusst gewählt. Der 1. Mai ist ein sozialistischer Feiertag, an dem alle Augen des Staates auf die Vorbereitungen des Großereignisses gerichtet sind. Zwanzig Minuten nach dem Start überwältigen die eingeweihten Passagiere die überraschten Beamten. Einer der Entführer dringt in das Cockpit ein und zwingt die Piloten zum Kurswechsel in Richtung Deutschland. Der Sprit reicht jedoch nicht bis nach Nürnberg. Die Alternative heißt West-Berlin. Trotz der militärischen Bedrohung durch zwei sowjetische Kampfflugzeuge im Luftraum der DDR landet die LOT-Maschine sicher in Tempelhof.

Czesław Kudłek, Pilot bei der LOT, muss nach der Verhängung des Kriegsrechtes befürchten, dass er durch Militärpiloten ausgetauscht wird. Als er seine Wohnung in Warszawa verliert und nach Wrocław umziehen muss, spitzt sich seine familiäre Situation zu. Da fasst er den Entschluss aus Polen zu fliehen. Am 12. Februar 1982 ist er dem LOT-Flug von Warszawa nach Wrocław als Pilot zugeteilt. Neunzehn Passagiere gehen an Bord des Flugzeuges, darunter seine Familie, befreundete Fallschirmspringer und Piloten, die er ebenfalls zur Flucht überreden konnte. Er ist auf Hilfe von außen angewiesen, immerhin sitzen im Flugzeug mindestens vier Beamte, die für die Sicherheit an Bord zuständig sind. Die Kursänderung tarnt der Pilot zunächst als eine Notwendigkeit. Angeblich ist eine Landung in Wrocław wegen militärischer Übungen nicht möglich, so dass er nach Szczecin (Stettin) ausweichen muss. Dem Tower in Warszawa erklärt Czesław Kudłek entführt worden zu sein. Die Sicherheitsbeamten an Bord schöpfen erst Verdacht, als ein sowjetisches und zwei ostdeutsche Kampfflugzeuge das Flugzeug im Luftraum der DDR begleiten. Sie werden daraufhin von den Passagieren überwältigt. Die Gefahr, die von den Kampfjets ausgeht, ist aber noch lange nicht vorbei. Doch Czesław Kudłek ist ein erfahrener Pilot. Er steuert zunächst den Flughafen Schönefeld in Ost-Berlin an. Als die MiGs das bemerken, ziehen sie ab. Kurz vor der Landung in Schönefeld überfliegt Kudłek aber den Tower, dann Ost-Berlin und landet in Tempelhof.

Am 22. November 1982 staunt der Pilot Jerzy Mikula nicht schlecht, als er im Cockpit von einem Entführer aufgefordert wird nach Tempelhof zu fliegen. Es handelt sich bereits um seine dritte Entführung. Doch diesmal ist der Entführer der 22-jährige ZOMO-Beamte (Zmotoryzowane Obwody Milicji Obywatelskiej / Motorisierte Reserven der Bürgermiliz), der eigentlich zur Sicherung des Fluges eingesetzt wurde. Er ist sogar Ausbilder und spezialisiert auf Flugzeugentführungen. Eine Waffe, mehrere Granaten und einen Fallschirm trägt er bei sich, die er aber zum Glück nicht einsetzt. Der zweite Beamte an Bord erfasst die Situation erst in Berlin, doch da ist es schon zu spät. Auch ein Schuss aus seiner Waffe, der den Flüchtenden in die Ferse trifft, kann dessen Flucht in den Westen nicht verhindern.

Es sind nur einige von jenen Schicksalen, die hinter der hohen Zahl der Entführungen oder Fluchten, je nach Perspektive und Definition, stehen. Darüber hinaus gab es viele Fluchtversuche mit kleineren Flugzeugen, die nicht zur LOT-Flotte gehörten. Bei weitem nicht alle Versuche waren erfolgreich. Manche wurden noch vor dem Start vereitelt, manche erst in der Luft. So oder so warteten auf die Flüchtlinge und ihre Familien Strafen und Repressalien.

Nicht nur für die Polen ist der Flughafen Tempelhof nach wie vor ein Symbol der Freiheit. Zwar landen hier keine Flugzeuge mehr, schon gar nicht entführte, dafür aber gehört das großzügige Areal nun den Berlinern. Hier finden sie Erholung von der Großstadt und nutzen das Gelände zum Spazieren, Laufen und Skaten. Es ist heute kaum vorstellbar, dass der heutige „Tempelhofer Park“ Schauplatz dramatischer Fluchten aus der Volksrepublik Polen war.

Die LOT landet inzwischen ganz legal in Berlin-Tegel, doch niemand kommt auf die Idee, LOT „Landet ooch in Tegel“ zu nennen. Auch das ist ein Zeichen für den großen europäischen Wandel der letzten Dekaden.

 

Adam Gusowski, Januar 2016

 

Zusatzinformationen:

Im Landesarchiv Berlin werden in den Polizeiakten und Pressesammlungen 16 nach Tempelhof entführte LOT-Flugzeuge erwähnt. Im Archiv der Tempelhof Air Force finden sich dagegen Hinweise auf nur acht Entführungen von LOT-Maschinen (dazu kommen noch vier polnische Flugzeuge, die nicht zu LOT gehörten).

Mediathek
  • Die entführte polnische Verkehrsmaschine TU 134

    Mit 62 Personen an Bord nach der Landung in Berlin Tempelhof am 30. August 1978.
  • LOT in Tempelhof - Radio play by "COSMO Radio po polsku" in English

    In cooperation with "COSMO Radio po polsku" we present radio plays on selected topics of our portal.
  • LOT Tempelhof - Hörspiel von "COSMO Radio po polsku" auf Deutsch

    In Zusammenarbeit mit "COSMO Radio po polsku" präsentieren wir Hörspiele zu ausgewählten Themen unseres Portals.