Wie ein polnischer Jude die Nazi-Zeit in Frankfurt überlebte: Leopold Tyrmands autobiographischer Roman „Filip“
Als „falscher Franzose“ ins Parkhotel
Das Parkhotel in Frankfurt am Main im Sommer 1943. Trotz kriegsbedingter Mangelwirtschaft versucht das Luxushotel am Wiesenhüttenplatz seine noble Fassade zu wahren, – schließlich steigen hier reihum namenhafte Nazis-Größen ab. Während die deutsche Stammbelegschaft des Hotels an der Ost- und Westfront der späten Kriegsjahre kämpft, ist es eine Kellner-Brigade ausländischer Fremdarbeiter, die den Hotelgästen Desserts aus Stärke und Geschmacksersatzstoffen kredenzt, zu dünnen Kaffee auftischt, ihre ausgelatschten Schuhe auf Hochglanz poliert und ihre verschlissene Fräcke ausbürstet. Unter den Kellnern: der 23-jährige ehemalige Architekturstudent Filip Vincel aus Warschau. Seines Zeichens polnisch-jüdischer Widerstandskämpfer, der wegen seines konspirativen Engagements im sowjetisch besetzten Teil Polens nur knapp der Gefangenschaft entkommen ist und dem im Deutschen Reich aufgrund seines jüdischen Glaubens eigentlich die Vernichtung drohen würde. Doch kaum jemand hier weiß um seine wahre Identität und Herkunft. In der waghalsigen Absicht, den Krieg „im Auge des Orkans“ zu überleben, beschaffte sich der junge Pole gefälschte Papiere, die ihn als in Warschau geborenen Franzosen katholischer Konfession ausgeben – und meldete sich freiwillig zum Arbeitseinsatz in Nazi-Deutschland.
Hier in der Belegschaft des Parkhotels befindet sich Filip in bester Gesellschaft. Die wenigen verbliebenen deutschen Kellner, wie Jupp und Leo, sind für den Einsatz an der Kriegsfront entweder zu jung – oder versuchen sich davor zu drücken. Die meisten der hier Arbeitenden kommen aber aus dem Ausland: Da gibt es den Niederländer Piotr – er ist Filips engster Freund. Und den Italiener Savino, den Tschechen Vessely, den Franzosen Pierre, den Elsässer Marcel und den Belgier Abbelé. Und eben Filip, der mit seinen fließenden Französisch- und Deutschkenntnissen die Rolle des „falschen Franzosen“ nahezu perfekt ausfüllt. Sie alle bilden eine recht harmonische Gruppe, geeint in ihrem Hass gegen den strengen Hoteldirektor und die deutschen „Herrenmenschen“. Und während die Alliierten den Krieg gegen die Nazis an den Fronten und im Luftkrieg führen, führen ihn die ausländischen Kellner hier im Frühstückssaal des Parkhotels. Sie zwacken den deutschen Gästen zu viel von den wertvollen Lebensmittelkarten ab, entwenden dem Arbeitgeber so häufig es eben geht eine Flasche des erlesenen Moselweins und spucken den Parteibonzen, Offizieren und Industriellen in ihren Kaffee. „Ich stand daneben, mein Herz erfüllte sich langsam mit dem Gefühl behaglichen Vergnügens, gestillten Verlangens, Erfüllung, mit einer rachsüchtigen, entwaffnenden Freude, wie sie ein Krieger verspürt, der seinen Fuß auf das abgeschnittene Haupt eines besiegten Feindes setzt“, ist in Filips Schilderungen zu lesen. Seine Feinde analysiert Filip mit fast schon ethnologischem Interesse und kommentiert sie, die nicht gewieft genug sind, seine wahre Identität aufzudecken, mit scharfzüngigen, ironischen und situationskomischen Worten: „germanische Nymphe“, „Nibelungenspross“. Obwohl er durchaus auf unterschiedliche Haltungen der Deutschen zum Nationalsozialismus trifft, steigert er sich durch das Erlebte in seinem rachsüchtigen Hass auf die Mörder seines Volkes. Immer wieder geraten dabei die komplizierten Beziehungen zwischen den Deutschen und den „Fremden“ in den Blick der Erzählung, die flankiert wird von den lebhaften Schilderungen der bedrohlichen Luftangriffe, der Lebensmittelknappheit, des allgegenwärtige Antisemitismus und Rassismus sowie den Einblicken in das nicht gerade ungefährliche, aber durchaus irrwitzige Alltagslebens des als Franzosen getarnten polnischen Juden mitten in Frankfurt.
Ob in Moslers Badeanstalt am Frankfurter Mainufer, in den Kneipen der Mainmetropole oder beim Picknick im Taunus: Die Stimmung in der Freizeit der jungen Männer ist ausgelassen. Die beachtlichen Bargeldvorräte, die Piotr freundschaftlich mit Filip teilt, erleichtert den beiden Freunden den Zutritt zu den besten Lokalen Frankfurts. Gelegentlich verbringen sie ihre Zeit mit Blanca, einer unangepassten jungen Deutschen, auf die Piotr ein Auge geworfen hat. Zum Leidwesen Piotrs aber, ist sie mehr an Filip interessiert. Sein gutes Aussehen und sein Status als Franzose bewirken bei so einigen Damen, dass diese nichts dagegen haben, sich auf eine flüchtige Bettgeschichte mit ihm einzulassen oder sich sogar von ihm über die Abwesenheit ihrer an der Front kämpfenden Männer hinwegtrösten zu lassen. Selbstbewusst und unverfroren nimmt sich der polnisch-jüdische Außenseiter das vom Leben, was ihm zusteht. Manchmal lebt er fast so, als gäbe es den Krieg gar nicht. In seiner rebellischen Leichtigkeit schwankt er zwischen Widerstand gegen und Anpassung an die grausamen Verhältnisse des Kriegsalltags.
„Solange ich zurückdenken kann, hatte sich in meinen eigenen Abgründen immer eine leichte Tendenz verborgen, mich oberflächlich durch die Gefilde des Lebens zu schlängeln, keine dauerhaften Entscheidungen zu fällen, die Tiefgründigkeit von Schicksal, Bindungen und Gefühlen zu meiden. Mein besserer Teil focht einen unaufhörlichen Kampf gegen diese Neigung, die mich nur allzu oft zu einer gefährlichen Halbherzigkeit verleitete“, resümiert der 23-jährige, dessen vorgebliche Unbekümmertheit ihn nicht nur in gefährliche Situationen bringt, sondern auch nicht über die Ängste und Sehnsüchte eines jungen Erwachsenen hinwegtäuschen kann: Als Filip die junge Hella, Tochter eines hohen deutschen Reichswehroffiziers, kennenlernt und sich in sie verliebt, lugt schließlich immer öfter sein wahres Gesicht hinter der Maske des Filou hervor. Es zeigt sich ein sensibler junger Mann, der verzweifelt versucht, sich von dem Wahnsinn des Krieges nicht brechen zu lassen. Ein junger Mann, der sich nach Nähe und Geborgenheit sehnt. Um seine Angebetete zu erobern, kehrt er dem Kellnerdasein im Parkhotel den Rücken. Und es treten neue Figuren und neue Turbulenzen in sein Leben: die Baronin von Wrangel, die ihm zu einer Anstellung als Bibliothekar verhilft. Der Pole Ziutek, der ihm einen Fremdenpass besorgt. Und der Italiener Dino, der Hitler-Anhänger Janowsky und der Deserteur Max. Hinzu kommen die immer schwerer werdenden Bombardierungen der Stadt durch die Alliierten, ein Verhör bei der Gestapo und eine Ermordung, die Filip schmerzhaft daran erinnern, wie die wahre Kriegsrealität aussieht …
Der autobiographische Hintergrund: Leopold Tyrmand
Es ist ein lebendiges Stimmungsbild einer deutschen Großstadt während des Zweiten Weltkriegs aus einer noch wenig bekannten Perspektive, für das der Schriftsteller Leopold Tyrmand in seinem Roman „Filip“ auf seine eigene Lebensgeschichte zurückgreifen konnte. Tyrmand entstammte einer assimilierten jüdischen Familie und wurde 1920 in Warschau geboren. Nach dem Abitur studierte er ein Jahr lang an der Pariser Akademie der Künste, kehrte aber 1939 nach Polen zurück. Nach dem Überfall Deutschlands auf Polen floh er nach Vilnius, wo er sich dem Widerstand anschloss und 1941 vom sowjetischen Volkskommissariat für innere Angelegenheiten NKWD (Narodnyj kommissariat wnutrennich del) festgenommen wurde. Durch den Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion gelang ihm die Flucht. Mit Hilfe gefälschter Dokumente gab er sich als Franzose aus und meldete sich zum freiwilligen Arbeitseinsatz in Deutschland, um anschließend über Deutschland nach Frankreich fliehen zu wollen. Die Jahre 1942/43 verbrachte er – wie in seinem autobiographischen Roman sein Alter Ego – überwiegend kellnernd im Rhein-Main-Gebiet. Bei seinem Vorhaben, als Matrose ins neutrale Schweden zu gelangen, wurde er von den Behörden aufgegriffen und im KZ Grini bei Oslo festgesetzt, wo er das Ende des Krieges erlebte. Seine Eltern wiederum gerieten während der deutschen Besetzung Polens in Gefangenschaft. Sein Vater wurde im KZ Majdanek bei Lublin ermordet. Seine Mutter überlebte den Holocaust und emigrierte nach Kriegsende nach Palästina. Nach Kriegsende kehrte Tyrmand nach Warschau zurück, wo er einer der schillerndsten polnischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts und ein renommierter Bestseller-Autor werden sollte. Wegen seiner Kritik am sowjetischen Regime hatte er ab 1954 zunehmend Probleme mit der Zensur und schließlich ein Publikationsverbot. Leopold Tyrmand emigrierte 1966 in die USA. Er starb 1985 in Fort Myers, Florida.
In Polen zählt der Schriftsteller und Geistesvater des Romans „Filip“ zu den beliebtesten Autor:innen seines Heimatlandes. Und auch in Deutschland wurde er zu Lebzeiten von deutschen Literaturkreisen viel beachtet, seine regimekritischen Romane wie „Der Böse“ (1956) und „Ein Hotel in Darlowo“ (1962) früh ins Deutsche übersetzt. Unerklärlich warum ausgerechnet sein autobiographischer Roman über den Überlebenswillen eines polnischen Juden im Nationalsozialismus so lange auf seine deutsche Übersetzung hat warten müssen. Nun aber, 60 Jahre nach der Veröffentlichung in Polen, liegt die lesenswerte deutschsprachige Erstausgabe in der Übersetzung von Peter Oliver Loew vor – und lädt dazu ein, den polnischen Schriftsteller Leopold Tyrmand und seine Lebensgeschichte (wieder-)zuentdecken.
Katarzyna Salski, Januar 2022
Zum Buch:
Leopold Tyrmand: Filip. Roman. Aus dem Polnischen von Peter Oliver Loew. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2021. 632 Seiten, 24 Euro, ISBN 9783627002848.