Jurek Skrobala
Als an einem Samstag im Juni 1988 ein Fiat 126 in Breslau (Wrocław) startet, um über die DDR in die BRD zu fahren, erscheint der Fall der Mauer noch wie eine Phantasie. Jurek Skrobala ist zweieinhalb Jahre alt. Seine Eltern sind Ende 20 und haben ihre wichtigsten Zeugnisse und Urkunden aufwändig im hinteren Teil eines Notizbuches versteckt, das in der Handtasche der Mutter verstaut ist. Genau diese Handtasche durchsucht der polnische Grenzbeamte gründlich, nimmt sogar alle Zigaretten aus der Schachtel. Die Dokumente entdeckt er jedoch nicht. Und so gelingt die Übersiedlung nach West-Deutschland.
Schon Jahre vorher ist Jurek Skrobalas Vater auf Besuch bei Verwandten in Kanada gewesen. Angetan von den Möglichkeiten des „freien Westens“ erschien ihm nach der Rückkehr der polnische Realsozialismus noch enger und willkürlicher. Schon während des Studiums sympathisierte er, wie seine Frau, immer mehr mit der Streikbewegung „Solidarność“. Gleichzeitig wuchs sein Wunsch, die Volksrepublik zu verlassen.
Nach der Überfahrt in den Westen kamen die Skrobalas zunächst in der Aufnahmestelle in Unna-Massen unter, dann in Hagen. Dort lebte Jurek Skrobalas Urgroßmutter mütterlicherseits, eine Polin, die vor dem Zweiten Weltkrieg in Łódź einen Mann geheiratet hatte, der zur deutschen Minderheit gehörte. Nach dem Krieg konnte der Urgroßvater, der als Wehrmachtssoldat in Frankreich stationiert gewesen war, nicht nach Łódź zurückkehren und ließ sich in Westfalen nieder, der Heimat seiner Vorfahren. Die Urgroßmutter folgte ihm erst 1957 aus Łódź dorthin, vier Jahre nach Stalins Tod. Wegen dieser Hintergrundgeschichte wurden die Skrobalas als „Spätaussiedler“ betrachtet und erhielten zusätzlich zu ihren polnischen Pässen auch deutsche.
Zu Hause sprach die kleine Familie Polnisch. Deutsch lernte Jurek Skrobala bei seiner Tagesmutter und im Kindergarten. Zwei wichtige Sätze hatte ihm seine Mutter aber schon im Vorfeld beigebracht: „Ich habe Durst“ und „Ich muss Pipi“.
Der Vater, der in Breslau als Englischlehrer und als Bibliothekar in der Ossolinski-Nationalbibliothek gearbeitet hatte, versuchte sich in der BRD als Staubsaugervertreter und arbeitete schließlich als technischer Übersetzer. Der Studienabschluss der Mutter in Geschichte wurde in Deutschland zwar anerkannt. Um aber zum Lehramt zugelassen zu werden, hätte sie ein weiteres Studium absolvieren müssen. Um Geld zu verdienen, arbeitete sie zunächst in einer Bäckerei. Heute leitet sie eine Physiotherapie-Praxis.
Jurek Skrobalas Bild von Polen war in seiner Jugend vor allem durch die Geschichten der Eltern geprägt. Er erzählt: „Das waren oft tragikomische Anekdoten über gesprengte Solidarność-Demos, das Weglaufen vor der Miliz oder die Herausforderungen bei der Beschaffung westlichen Alkohols.“ Aber auch Musik wie die von Jacek Kaczmarski oder Gedichte wie die von Zbigniew Herbert spielten im Elternhaus eine Rolle. Jurek Skrobala verband damit ein heimeliges Gefühl. Dieses Gefühl und das Interesse an der eigenen Herkunft waren Gründe, warum er schließlich in Münster Neuere und Neueste Geschichte mit Schwerpunkt Osteuropa studierte, zusammen mit Germanistik und Kommunikationswissenschaft.
„Neben Geschichte interessierte ich mich für Geschichten“, sagt er. „Am meisten gefiel mir aber die Musik.“ Jurek Skrobala spielte Gitarre in einer experimentellen Post-Punk-Band, die schließlich einen Vertrag bei einem der größten Musikverlage weltweit ergattern konnte, dann aber während der monatelangen Aufnahmen des Debütalbums auseinanderbrach. Aufstieg und Fall der Band zogen sich fast durch die gesamte Studienzeit. Währenddessen machte Jurek Skrobala verschiedene Praktika, zum Beispiel bei „Jetzt“, dem auf ein junges Publikum zugeschnittenen Format der Süddeutschen Zeitung. Außerdem schrieb er für das Popmusik-Online-Fanzine „Rote Raupe“ und wurde mit CDs und Konzerttickets entlohnt. Er sagt: „Ich merkte mehr und mehr, dass mir auch das Schreiben über Musik Spaß machte.“ Als sich dann zum Ende des Studiums die Band auflöste, machte Jurek Skrobala seinen Plan B zu seinem Plan A und bewarb sich an der Deutschen Journalistenschule. Er wurde angenommen und somit einer von 15 in der Kompaktklasse der 52. Lehrredaktion. Dass er ins Feuilleton wollte, war ihm seit der „Raupe“ klar. Als ein Praktikumsplatz in der Kultur bei „Der Spiegel“ frei wurde, bewarb er sich. Schließlich arbeitete er sowohl für das Magazin als auch für die Onlineredaktion des „Spiegel“. Um sich vor allem an langen Texten zu pop- und jugendkulturellen Themen zu schulen, wechselte Skrobala schließlich zur „Neon“. Für das mittlerweile eingestellte Magazin verfasste er auch Essays mit Polenbezug, wie seine Ich-Reportage über den Rechtsruck in Polen. Heute arbeitet er meist als ständiger freier Autor für den „Spiegel“.
Skrobala schreibt vor allem über das, womit er sich immer schon gern befasst hat: Musik. Sein bevorzugtes Format sind Reportagen und Porträts. So schrieb er unter anderem über den US-Rap-Star Kendrick Lamar, den er in Paris traf, über die litauische Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla, die er in London und Birmingham begleiten durfte, oder den Pianisten Igor Levit, dem er in Deutschland, England und Frankreich über die Schulter schauen konnte. Mit seinem Bericht über den Skandal um den Deutschrapper Kollegah kam Jurek Skrobala 2018 auf die Shortlist des Deutschen Reporterpreises.
Neben Musik und Popkultur widmet sich Skrobala immer wieder auch anderen gesellschaftlichen Themen. So schrieb er beispielsweise über einen Überlebenden des Massakers auf der norwegischen Insel Utøya, einen nordkoreanischen Flüchtling in Seoul oder eine Betrachtung über das Nichtstun.
Immer wieder befasst sich Jurek Skrobala auch mit Polen. Allerdings nicht in erster Linie, weil er polnischer Herkunft ist und seinen journalistischen „Polenbonus“ ausspielen will, wie es ein deutscher Redakteur einmal etwas despektierlich formulierte. Er sagt: „Mit Themen, die um Polen kreisen, befasse ich mich gern, sofern ich sie als relevant einschätze und sie mich interessieren. Wie bei popkulturellen Themen.“
2014 machte Skrobala eine Reise durch das Land seiner Geburt und interviewte verschiedene Schriftsteller*innen. Unter anderem sprach er in Breslau mit Olga Tokarczuk, in Schlesien mit Szczepan Twardoch und nahe der slowakischen Grenze mit Andrzej Stasiuk. Eine Frage, um die es in den Gesprächen ging, war die nach Putins Vorrücken am Donezk im Spiegel der Geschichte Polens . Für die „Zeit“ fuhr Skrobala 2019 nach Warschau, um dem Mythos des polnischen Wodkas nachzuspüren. Als besondere Ehre empfand es Skrobala bei „Die letzten Zeugen“ mitwirken zu dürfen, einem Titelthema des „Spiegel“ über Überlebende des KZ Auschwitz. Er traf dafür in Warschau Zofia Posmysz und Kazimierz Albin zu langen Interviews. Aus dem Projekt ging schließlich auch ein von Susanne Beyer und Martin Doerry herausgegebenes Buch hervor.
Jurek Skrobala kann sich bis heute flüssig auf Polnisch unterhalten. Manchmal muss er jedoch nach einem Begriff suchen und greift dann auch schon einmal zum deutschen Ausdruck, etwa wenn er mit seiner Mutter telefoniert. Vor Jahren attestierte ihm während eines Praktikums bei der „Deutschen Welle“ in Bonn ein polnischer Redakteur scherzhaft, er spräche Polnisch wie Mickiewicz, ein polnischer Nationaldichter des 19. Jahrhunderts. „Das war natürlich Quatsch“, sagt Skrobala, „aber schöner Quatsch, weil das Polnisch, das ich von meinen Eltern in den späten 80ern gelernt habe, tatsächlich schon ein wenig Staub angesetzt hat.“
Auch Skrobalas Blick auf Polen ist bis heute von den Beschreibungen und Idealen seiner Eltern geprägt, die für die Solidarność-Bewegung auf die Straße gegangen sind. Die nationalkonservative Politik der PiS sieht er kritisch. Aus seiner Sicht steht sie der Weltoffenheit vieler Polinnen und Polen entgegen, unterhöhlt die Demokratie und wirft das Land zurück. „Ich betrachte das mit Sorge“, sagt er. „Die Zensurversuche, das Abtreibungsgesetz, die sogenannten LGBT-freien Zonen, all das passt nicht mehr ins Weltbild vor allem junger Menschen. All das sollte nirgends Platz haben, meiner Meinung nach.“
Zur Frage, wo Jurek Skrobala seine Heimat hat, in Deutschland oder in Polen, schrieb er mit 29 Jahren einen Text für die „Neon“, zu dem er heute noch steht. Darin heißt es:
„Mit zwölf schrieb ich einen Text, der ›Heimat‹ hieß. Er fängt an mit einem kleinen Fiat, Hundegebell und Kohlegeruch. Das sind die Dinge, die mich sofort an Polen erinnern. Mit zwölf dachte ich, dass das Heimat sein muss: diese nostalgischen Details. So ist es aber nicht. Heimat ist kein Ort. Sie steht in keinem Pass, setzt sich nicht aus schöngedachten Erinnerungen zusammen. Heimat ist ein Gefühl. Sich geborgen zu fühlen – vielleicht ist das Heimat? So fühle ich mich in Hamburg, wo ich lebe, in Wrocław, wo meine Omas leben, und im geschrumpften Polen, der Wohnung meiner Eltern. Heimat – das Wort sollte man öfter im Plural verwenden.“
Anselm Neft, Februar 2021
Die Homepage des Journalisten Jurek Skrobala: www.skrobala.de