Jacek Głaszcz: „Ich wollte keinen Kafka spielen“

Jacek Głaszcz während der Proben für „Becketts Beine“ im ACUD-Theater Berlin, 2024.
Jacek Głaszcz während der Proben für „Becketts Beine“ im ACUD-Theater Berlin, 2024.

Meine Stadt
 

„Natürlich ist sie grau und dreckig. Natürlich gingen alle dort weg, sobald sich die Möglichkeit bot. Der ewige Clash zwischen dem Łódź der Kunstschaffenden und dem Łódź der Arbeitenden. Die Möchtegern-Bohème, die frühmorgens aus dem Kufel oder dem Spatif kam, traf an der Straßenbahnhaltestelle auf wandelnde Tote. Ein einziges Theater mit Textilarbeiterinnen in der Hauptrolle. Wie vor hundert Jahren.“

Jacek, erinnerst du dich noch an das Lied „Kochankowie z Kamiennej“? Nach 1945 zog das Lumpenproletariat in die leerstehenden Wohnungen in der Kamienna-Straße, die nun in Włókiennicza umbenannt wurde. Wo einst jüdische Gebetsräume waren, sprossen Spelunken und Bordelle aus dem Boden. Für viele Einwohner:innen von Łódź verkörperte diese Straße die „Stadt des Bösen“. Die meisten – so auch du und ich – verließen die Kamienna-Straße. Andere wiederum kehrten notgedrungen dorthin zurück. „Dann bricht die Dunkelheit herein / Dann trudeln sie wieder in der Kamienna ein“ – schrieb Agnieszka Osiecka.[1]

Dennoch war es zugleich auch die Stadt, in der das Teatr Nowy (Neues Theater) mit Kazimierz Dejmek zuhause war. Ein Theater, das Jacek sehr ans Herz gewachsen war, mit unvergessenen Aufführungen von Witold Gombrowicz, Sławomir Mrożek oder Zbigniew Herbert. Und natürlich Ewa Demarczyk, die er nach einem Konzert kennenlernen durfte. Und Marlene Dietrich, die eine Nacht im hiesigen Grand Hotel verbrachte. Das Türschild mit ihrer Zimmernummer hat er bis heute aufbewahrt. Es gab zwei gute Jazzclubs: einen an der Technischen Universität und das Medyk.

„Erinnerst du dich an das Honoratka? Da tummelten sich alle möglichen polnischen Film- und Theaterstars… und die Staatssicherheit“, lacht Jacek. 

Dennoch verließ er die Stadt.

Dieser Fluch der „Stadt des Bösen“ kommt heute in Form des Hochhauses Brama Miasta (Stadttor) am Bahnhof Łódź Fabryczna wieder hoch. Geplant war eine architektonische Zukunftsvision von Daniel Libeskind – was daraus geworden ist, sieht man nun. 

 

Die Freiheit, oder Frau Krysia und Herr Direktor
 

Jacek schätzte Krysia als Schauspielerin sehr. Es gab nur ein Problem: Sie war ein Spitzel. Deshalb nahm der Herr Direktor des Pinokio abends nach Ende des Puppentheaterfestivals in Lausanne allen Schauspieler:innen die Pässe weg. Der Fluchtplan, den sie geschmiedet hatten, wäre eines James Bond würdig gewesen. Während der Rast in Bayern sollte Michał den Fahrer außer Gefecht setzen und Jacek und die anderen Schauspieler:innen sollten die Scheiben einschlagen und das Gepäck rauswerfen. Aber die Pässe? Die wollte der Herr Direktor nicht rausrücken. Er hatte Angst. Also gab es Streit und Handgemenge. Michał stellte sich quer, Herr Direktor wurde wütend. Die Pässe flogen über den Köpfen des Ensembles hinweg. Sie suchten die eigenen raus und weg waren sie! Mit Gepäck, aber durch die Tür des Reisebusses.

„Was passierte danach mit Krysia?“

„Ich habe sie viele Jahre später wiedergesehen. Ich fragte sie, warum sie sich damals hatte da reinziehen lassen, aber sie schwieg. Ich glaube, es war einfach nur Dummheit.“

„Und der Herr Direktor?“

„Der wollte auch nicht reden.“

 

Mein West-Berlin
 

Das Aufnahmelager Marienfelde, die Alliierten, Verhöre, Duldung. Der Alptraum der Flüchtlingsheime. Der klassische „Gesundheitspfad“ eines Geflüchteten. Für Jacek war West-Berlin vielleicht eine Insel, doch keineswegs eine geschlossene Stadt. Eine besondere, elitäre Insel. Denn wer würde sich schon freiwillig einsperren lassen, selbst in einem goldenen Käfig? In West-Berlin.

 

Frau Opra und Diese Dame
 

„Das war zwar nur eine kurze Zeit, aber sie war so wichtig, schreib das auf“, drängt Jacek.

Frau Opra war Kantinenleiterin in einem wichtigen Theater. Sie bezahlte gut. Durch diese Arbeit konnte er viele Leute kennenlernen: Musiker:innen, Sänger:innen aus dem Musical „A Chorus Line“, Schauspieler:innen, die ein Leben lang Hellebarden tragen mussten. Tänzer:innen, die wie er selbst geflüchtet waren, aber auch solche, die unter Vertrag standen. Was hatten sie mit Jacek gemeinsam? Sie waren Pol:innen. Mehr nicht. Die meisten von ihnen hassten Landsleute, die auf der sozialen Erfolgsleiter unter ihnen standen. „Du Lakai! Du Tellerwäscher“, fauchten sie ihn an.

„So viel Hassrede, Verachtung und Feindseligkeit habe ich nie wieder erlebt.“ Und doch gab es auch Diese Dame, die er auf einer polnischen Party kennenlernte. Sie unterschrieb für Jacek und seinen Partner bei der Wohnungsgenossenschaft eine Mietbürgschaft, dass sie dafür aufkommt, falls er… Einfach so, obwohl sie sich erst wenige Stunden kannten. Das ließ ihn wieder Vertrauen in seine Landsleute schöpfen. 

 

Mit Puppe und Maske
 

1985 entstand aus der Initiative von Jacek und Halina Tramba-Kowalik heraus das Polnische Puppen- und Maskentheater. Außer den beiden gehörten noch Andrzej Kowalik und Krzysztof Zastawny zum Ensemble.

„Halina ist nicht nur eine sehr begabte Schauspielerin, sondern auch eine wundervolle Szenografin und bildende Künstlerin. Und sie hat die seltene Fähigkeit, all das zu einem sinnvollen Ganzen zu verbinden“, erinnert sich Jacek. Das Theater war sowohl auf Kinder als auch auf ein erwachsenes Publikum ausgerichtet. Zehn Jahre Arbeit, acht Premieren. Das erste Stück war eine Adaption von, nomen est omen, „Pinocchio“. Und Jacek sollte in insgesamt 2.000 Stücken des Theaters spielen. Das Erfolgsrezept? Davor hatte es in Berlin kein Theater dieser Art gegeben! Puppen gab es höchstens im Kasperletheater. Hier aber konnte man sich an echtem, lebendigem Theater erfreuen, an einer Symbiose aus Schauspieler:in und Puppe. Licht, Kostüme, Masken. Masken, die die Kinder so nicht kannten – und vor denen sie Angst hatten. Die Schauspieler:innen betraten die Bühne maskiert, zusammen mit den Puppen. Das sorgte für einen wundervollen Übergang von Puppe zu Mensch, der die Phantasie der Kinder anregen sollte. „Das ist schon immer das Ziel des Puppentheaters gewesen und ist es auch heute noch“, fügt Jacek hinzu. Daher entschied man sich, bereits vor der Aufführung die Kinder zum Mitmachen einzuladen: zum gemeinsamen Bühnenaufbau und Dekorieren. Sie durften die Masken nicht nur sehen, sondern auch anfassen und sogar anprobieren. Durch diese „Eingewöhnung“ ins Theater wollte das Ensemble den Kindern die Angst vor dem Unbekannten nehmen.

„Und die Marionetten selbst?“

„Die waren recht ungewöhnlich, meinst du nicht? Wie die sizilianische, die du mal hattest… Die hing nicht an Fäden, sondern an Drähten, mit deren Hilfe man die Arme bewegen konnte. Und dann noch diese ‚Pistolengriffe‘ in den Köpfen der Puppen, an denen man ziehen konnte, um die Augen und den Mund auf- und zuzuklappen… Das war ein Schock für die Berliner Kinder!“

Doch die jahrelange Arbeit im Puppen- und Maskentheater führte bei Jacek zum Burn-Out: „Vielleicht wollte ich einfach nur was Neues anfangen, oder hatte ich bloß verstanden, dass ich kein überragender Schauspieler bin? Ich weiß es nicht. Stress, Druck. Die Angst, dass ich zu alt bin und mir nicht mehr alles merken kann? Vielleicht war das mit Kafka[2] ein Fehler.“ Jacek versprach Katarzyna Makowska-Schumacher, wenn er mal die „Briefe an Milena“ inszenieren sollte, würde er es zwar gerne tun, aber auf Polnisch. Dazu erklärt er: „Ich habe meine Begeisterung fürs Theater gerade wegen der großen Produktionen verloren. Dennoch bin ich den klassischen, kleinen Formen treu geblieben: Stücken, die Lösungen anbieten, anstatt völlig neue Wege zu suchen, nur um auf die Jagd nach neuen Zuschauer:innen zu gehen.“

Dann kam das Radio 100. Krzysztof Zastawny schrieb Texte und moderierte Programme für den Sender, Jacek las vor. Später nahm er Jingles für das Radio Multikulti auf. 

 

[1] Kochankowie z ulicy Kamiennej („Die Liebenden von der Kamienna-Straße“) – ein Lied der polnischen Dichterin Agnieszka Osiecka. Sie selbst wohnte während ihres Studiums an der Filmhochschule Łódź in den Jahren 1957–1962 in der Kamienna- bzw. Włókiennicza-Straße.

[2] „KKAAFFKKAA oder... du hast mich dir anders vorgestellt... Szenisch-choreografischer Versuch über Franz K.“ Regie/Dramaturgie: Katarzyna Makowska-Schumacher. Berlin-Premiere: Februar 2017, Theater Zentrifuge Studio 2.

Jopek, „Rote Tomaten“ und Bigos mit Kantor…
 

Bereits als Mitarbeiter des Polnischen Instituts (2002–2015) veranstaltete Jacek für deutsche Jazzkritiker:innen eine Studienreise zum Jazz Jamboree-Festival in Warschau. Es gab Gespräche mit polnischen Musiker:innen, einen Besuch bei Tomasz Stańko zu Hause, ein Treffen mit Anna Maria Jopek. Das Album, das die Sängerin zusammen mit Pat Metheny aufgenommen hatte (Upojenie, 2002), war für Jacek der Schlüssel zur Vermarktung ihrer Musik in Deutschland. Er glaubte an den Erfolg. Doch reicht Glaube allein? Das entscheidende Argument für Jopek sollte gerade das sein, was die Deutschen an ihr liebten – und er selbst überhaupt nicht mochte. „Diese zur Schau getragene Volkstümlichkeit, all dieses Masowien, all diese Lerchen, dieses ganze oy, oy, oy…“ Darauf folgte ein Artikel im „Tagesspiegel“ mit einem Foto, das die halbe Seite einnahm. Und ein rappelvoller Tränenpalast[3]. Auf der Welle dieses Erfolgs folgten Kayah, Myslovitz, Justyna Steczkowska und natürlich auch Michał Bajor. Die polnische gesungene Poesie traf auf Chansons. Das war das Konzept. Eine mutige Entscheidung. Und sie trug Früchte: Anna Prucnal wurde in den Spiegelsaal in Clärchens Ballhaus in Berlin eingeladen. Weitere Locations gesellten sich dazu: das Kesselhaus/die Kulturbrauerei (Zakopower); der Club der polnischen Versager (Jacek Kulesza Trio) sowie der legendäre Club Quasimodo (Adam Bałdych).

„Und was war mit deiner Agentur ‚Rote Tomaten‘?“

„Sie war lediglich eine Ergänzung meiner Arbeit am Polnischen Institut. Ich habe sie gegründet, um polnische Musiker:innen auf deutschen Festivals präsentieren zu können. Anfangs waren es ausschließlich Jazz-Musiker:innen. Natürlich dachte ich auch über polnische Rock- und Popmusik nach. Davon hätte ich leben können. Aber ohne Startkapital hätte das langfristig keine Chance gehabt. Durch die Arbeit am Institut habe ich definitiv Gefallen am Jazz gefunden, diese Musik ist mir ans Herz gewachsen. Mehr noch: Keins dieser musikalischen Projekte wäre möglich gewesen ohne die finanzielle Unterstützung des Instytut Mickiewicza (Adam-Mickiewicz-Institut) in Warschau und des Instytut Książki (Buch-Institut). Das Polnische Institut förderte aber bei Weitem nicht nur polnische Musik, sondern auch Literatur und Theater. Ich wollte eine Hommage an Tadeusz Kantor veranstalten. Das war 2015… Mein Projekt wurde abgelehnt. Nachdem ich vom Institut weggegangen war, sah ich plötzlich einen Flyer. Darin stand nahezu das gleiche Programm wie das, das ich geschrieben hatte, und dazu gab’s noch ein polnisches Bigos-Rezept.“ 

Zusammen mit Bożena Baranowska[4] veranstaltete Jacek am Maxim-Gorki-Theater regelmäßig inszenierte Bühnenlesungen von Werken junger polnischer Dramaturg:innen. An der Berliner Akademie der Künste initiierte er im Rahmen des „Blickwechsel“-Programms einen polnischen Themenblock im Bereich Drama unter dem Namen „TheaterSlam“.

 

Litera-Tour
 

„Den Leser:innen entgegenkommen, dort sein, wo sich das literarische Berlin trifft. Das sollte mein Erfolgsrezept sein. Ich habe ausschließlich Autor:innen vorgestellt, deren Werke in deutscher Übersetzung vorlagen. Die Empfänger:innen sollten immerhin deutsche oder deutschsprachige Leser:innen sein“, wirft Jacek ein. Dank der Unterstützung des Buch-Instituts und des Adam-Mickiewicz-Instituts in Warschau war es möglich, die Werke polnischer Schriftsteller:innen regelmäßig vorzustellen. „Den Leser:innen entgegenkommen“ bedeutete, bereits vorhandene oder im Entstehen begriffene literarische Treffpunkte zu nutzen, angefangen bei der alternativen „LiteraturWerkstatt“ in der Kulturbrauerei (Paweł Huelle: „Weiser Dawidek“, 2013) über das Literaturhaus Berlin bis hin zum Internationalen Literaturfestival, wo Jacek im Jahre 2010 die Werke von Andrzej Stasiuk vorstellte. In der altehrwürdigen Schwartzschen Villa war Andrzej Bart mit der deutschen Übersetzung seines Romans „Die Fliegenfängerfabrik“ zu Gast (2011). Im Mai 2012 reiste Olga Tokarczuk aus Polen zu „Europa literarisch“ an. Es war nicht ihr erster Besuch in Berlin. Diesmal wurde sie vom Berliner EUNIC, den Nationalen Kulturinstituten der Europäischen Union, eingeladen.

 

Finale Grande... ?
 

„Und Beckett?“

„Tja, da wurde mir meine Eitelkeit zum Verhängnis. Ich habe Beckett gespielt. Oder genauer gesagt seine Beine.“[5] (lacht)

„Wie geht es jetzt weiter?“

„Ich möchte Łódź öfter besuchen. Mein nicht-gelobtes Land…“

 

Wojciech Drozdek, Februar 2024

 

[3] Tränenpalast: Ehemaliger Grenzübergang zwischen Ost- und Westberlin am Bahnhof Friedrichstraße. In den Jahren 1991–2006 wurde das Gebäude als Musikclub benutzt. Heute beherbergt es ein Museum.

[4] Theater-, Film- und Fernsehschauspielerin, Theaterregisseurin und PädagoginDekanin des Fachbereichs Schauspiel am Europäischen Theaterinstitut (ETI) der Schauspielschule Berlin (1997–2000).

[5] ACUD-Theater, STUDIO 2, „Becketts Beine“, Premiere: März 2024. Regie: Katarzyna Makowska-Schumacher. In den Hauptrollen: Bożena Baranowska, Justyna Pawlicka, Jacek Głaszcz.

Mediathek
  • Jacek Głaszcz

    Während der Proben für „Becketts Beine“ im ACUD-Theater Berlin
  • Polnische Puppen- und Maskentheater in Berlin

    Vorbereitung der Masken für die Aufführung. Halina Tramba-Kowalik und Jacek Głaszcz
  • Darsteller:innen mit Masken und Puppen

    Von links: Andrzej Kowalik, Halina Tramba-Kowalik, Krzysztof Zastawny, Jacek Głaszcz
  • Puppen und Masken in der Ausstellung „Zuzug nicht gestattet“

    Polnische Kultur in Berlin Kreuzberg, 1991
  • Aus der Sammlung von Jacek Głaszcz

    Eine sizilianische Marionette
  • Aus der Sammlung von Jacek Głaszcz

    Schild mit der Zimmernummer 232 des Orbis Grand Hotel in Łódź, wo Marlene Dietrich übernachtet hat
  • Jacek Głaszcz während des Gesprächs

    2024
  • Jacek Głaszcz

    Mit Agios
  • Aus der Sammlung von Jacek Głaszcz

    Auf dem Foto von links: Tadeusz Łomnicki und Krzysztof Zastawny
  • Aus der Sammlung von Jacek Głaszcz

    Familienalbum (Farbfoto): Die Mutter und Tante, 1933
  • Jacek Głaszcz

    Vor dem Eingang des ACUD-Theaters in Berlin, 2024
  • Erinnerungen von Jacek Głaszcz

    Textilarbeiterin aus Łódź, 1970