Herkunft als Netz – Die Regisseurin Emilie Girardin
Aufgewachsen ist Emilie Girardin ab 1991 in einem winzigen Dorf in der französischsprachigen Schweiz gleich an der Grenze zum Kanton Bern. In dem Örtchen war deshalb neben Französisch auch Schweizerdeutsch zu hören. Zu Hause sprachen die Girardins allerdings Englisch. Denn das war die Sprache, in der sich die Eltern verständigen konnten. Emilies Vater stammte aus der französischsprachigen Schweiz, die Mutter aus Schlesien. Sie wuchs in Bytom und dann Katowice auf, studierte zunächst in Krakau (Kraków) und wanderte dann mit einem Fulbright Stipendium in die USA aus, um ihren Master in Psychologie zu machen. Dort lernte sie ihren zukünftigen Mann kennen. Die beiden heirateten und zogen schließlich in seine Schweizer Heimat.
Emilie und ihre ältere Schwester Léa lernten also zuerst Englisch, dann, als sie in die Schule kamen, auch Französisch. Polnisch wurde zu Hause nicht gesprochen. Emilie Girardin erklärt, dass es für ihre Mutter einfach zu schwierig gewesen sei: „Sie war an einem fremden Ort, an dem niemand Polnisch sprach. Da konnte sie uns nicht ganz allein auch noch Polnisch beibringen.“
Mit der polnischen Sprache kam Emilie Girardin allerdings bei den mütterlichen Großeltern in Katowice in Kontakt. Dorthin fuhr sie mit ihrer Familie mehrmals im Jahr. Zwar unterhielt man sich auch dort weitgehend auf Englisch, aber die Kinder auf der Straße und die Menschen in TV-Kindersendungen wie „Dobranocka“ sprachen natürlich Polnisch. Emilie Girardin erinnert sich: „Wir haben die Sprache viel gehört und Wörter gelernt, Kinderlieder auch, die unser Dziadek [Opa] uns beigebracht hat.“
Deutsch lernte Emilie Girardin an ihrer Schweizer Schule als zweite Amtssprache. Als Emilie mit 17 Jahren einen jungen Mann aus Bielefeld auf einem Punkfestival kennenlernt, festigten sich ihre Deutschkenntnisse. Die Beziehung führte Emilie auch das erste Mal nach Hamburg, also in die Stadt, in der sie heute lebt und als Regisseurin an Projekten von Tanztheater bis Film arbeitet.
Schon als kleines Kind wollte Emilie Girardin Autorin werden. Sie erinnert sich, dass sie bereits bevor sie schreiben lernte, eine eigene Schrift erfunden und Geschichten geschrieben hat, um sie ihrer Schwester vorzulesen. Allerdings fand sie schließlich die Arbeit allein am Schreibtisch zu einsam und wollte lieber mit Menschen zusammen an kreativen Projekten arbeiten. So entstand der Wunsch, Theater zu machen. Emilie Girardin absolvierte bereits ihr Abitur mit einem Schwerpunkt auf Theater, lebte dann eine Weile in Argentinien und Brasilien, wo sie ein Praktikum im Zentrum des „Theaters der Unterdrückten“ machte, das auf der Methode des Theaterpädagogen Augusto Boal (1931–2009) basiert.
Als sie zurück nach Europa kam, verbrachte sie 2011 mehrere Monate in Polen, während sie sich für die Aufnahmeprüfungen an verschiedenen Hochschulen für Theater vorbereitete. Wie ihre Schwester ein Jahr vorher, schrieb sich Girardin in Krakau an der Jagiellonen-Universität (Uniwersytet Jagielloński) für ein Sprachprogramm ein. Ein wichtiger Grund dafür war, dass sie mehr Zeit mit ihrem Großvater verbringen wollte, der für sie und ihre Schwester in der Kindheit so wichtig gewesen war. Nach dem erfolgreich absolvierten Sprachkurs und einer wachsenden Verbindung zu Polen, zog Girardin allerdings nach Barcelona, um am dortigen Institut del Teatre Theaterregie zu studieren.
Während des Studiums entwickelt Girardin ein zunehmendes Interesse für physisches Theater und entfernt sich bald komplett vom Texttheater. Am Institut del Teatre ist sie genau am richtigen Ort, den hier gibt es eine eigene Sparte für physical theatre. Girardin erhält Gelegenheit bei einigen interessanten Theaterschaffenden als angehende Regisseurin zu hospitieren. Sie erinnert sich: „Es gab in dem Bereich natürlich auch eine starke Faszination für den polnischen Künstler Tadeusz Kantor und sein physisches Theater. Sein Stück ‚Umarła klasa‘ wurde sogar an der Uni in Barcelona wiederaufgeführt.“