Halina Kłąb-Szwarc. Die jüngste Geheimagentin der Heimatarmee

Prof. Halina Kłąb-Szwarc jako prorektor Akademii Wychowania Fizycznego w Warszawie. Funkcję tę pełniła w latach 1969–1971
Prof. Halina Kłąb-Szwarc als stellvertretende Rektorin der Sporthochschule Warschau. Diese Funktion hatte sie in den Jahren 1969–1971 inne.

„Seid euch eurer Verantwortung der Gesellschaft gegenüber bewusst. Lasst diese historische Chance auf Freiheit nicht verstreichen, auf die so viele Menschen meiner Generation vergeblich gewartet haben.“ Dieses Zitat von Halina Kłąb-Szwarc ist auf der Tafel neben ihrem Denkmal mitten in Łódź zu sehen. Der Ort, an dem es seit 2021 steht, wurde nicht zufällig gewählt. Direkt dahinter befindet sich das ehemalige Gestapo-Gefängnis, in dem die damals 21-Jährige die Vollstreckung ihres Todesurteils erwartete.[1]

Für Werte wie Freiheit und Eigenverantwortung war Halina Szwarc (geborene Kłąb) bereit, alles zu riskieren – ihr eigenes Leben mit einbegriffen. Anfangs wies jedoch noch nichts darauf hin, dass ihr junges Leben schon bald einem Actionthriller gleichen sollte. Halina wird am 5. Mai 1923 als einziges Kind ihrer Eltern in Łódź geboren. Dort genießt sie eine ausgezeichnete Bildung am Helena-Miklaszewska-Mädchengymnasium, einer prestigeträchtigen Schule für Töchter von Intellektuellen und vermögenden Fabrikbesitzer:innen. Eine besonders wichtige Rolle im Leben der jungen Halina spielt die Musik. Sie träumt davon, Konzertpianistin zu werden und übt jeden Tag mehrere Stunden am Klavier. Doch dieser Lebenstraum platzt, als sie an ihrer Musikschule eines Tages einen 12-jährigen Jungen spielen hört. „Ich wusste, ich würde niemals besser spielen können als er“, erinnert sie sich Jahre später.[2] Als Jugendliche entdeckt Halina das Pfadfindertum für sich.

Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verändert dann die gesamte Lebensplanung und die Wertvorstellungen der damals 16-Jährigen. Auf eigene Faust versucht sie, sich im Untergrund einzubringen. Das gelingt ihr auch bald: Im Dezember 1939 wird sie in den Verband für den bewaffneten Kampf (Związek Walki Zbrojnej, ZWZ), Abteilung Łódź aufgenommen. Ihr erster Auftrag lautet, die deutsche Sprache perfekt zu beherrschen. Als Lernmaterial dienen ihr u. a. Zeitungen. Einige Monate später erfährt sie, dass sie sich unter Berufung auf die deutschen Wurzeln ihrer Großmutter (geborene Vogel) um die Aufnahme in die Deutsche Volksliste bemühen soll. Sie tritt auch dem Bund Deutscher Mädel bei, dem Äquivalent der Hitlerjugend für junge Mädchen.

Im Herbst 1940 wird Halina aufgrund ihrer „gesichert deutschen Abstammung“ in die Deutsche Volksliste aufgenommen und ändert ihren Nachnamen in Klomb. Der Preis, den sie dafür bezahlen muss, ist hoch. Ihre Freundinnen, die nichts von ihrer Beteiligung am Widerstand wissen, zeigen ihr deutlich, was sie von ihrem „Sinneswandel“ halten: Sie spucken ihr vor die Füße.

Bald zieht die junge Halina nach Kalisz um, wo sie eine deutsche Schule besucht und das Abitur mit Auszeichnung besteht. Anschließend arbeitet sie als Lehrerin an einer Schule im Stadtviertel Piwonice, wo sie Kinder der hier angesiedelten Deutschen unterrichtet. Währenddessen nimmt sie bereits geheimdienstliche Aufgaben wahr. Sie soll für die Abteilung Kalisz II der Heimatarmee (Armia Krajowa, AK) die Stimmung unter der deutschen Bevölkerung beobachten und darüber Bericht erstatten. Ihr direkter Vorgesetzter ist Wacław Kałużniak, Tarnname „Jacek Eins“ (Jacek Pierwszy). Als er von den Deutschen enttarnt und erschossen wird, übernimmt Halina seinen Posten unter dem Tarnnamen „Jacek Zwei“ (Jacek Drugi).

1942 zieht Halina auf Geheiß ihrer Vorgesetzten nach Wien. Um keinen Verdacht auf sich zu ziehen, beginnt sie dort ein Medizinstudium. Dies ist jedoch nur eine Tarnung, die sie benötigt, um die „Aktion N“ (Akcja N) einzuleiten. Heimlich schickt sie anti-nationalsozialistisches Propagandamaterial an deutsche Haushalte. Dieses beinhaltet u. a. Todesanzeigen von jungen Soldat:innen, die „im Dienst für den Führer“ ums Leben gekommen sind, sowie Zeitschriften, die durch Ankündigung der nahenden Niederlage Deutschlands die Moral der deutschen Bevölkerung senken sollen. Die „Aktion N“ ist ein Teil der psychologischen Kriegsführung.

Die junge Agentin weiß, was ihr im Falle einer Enttarnung droht. Deswegen trägt sie stets ein kleines Giftfläschchen bei sich. „Ich nahm das Zyanid zu jedem Einsatz mit. Im Falle von Verhör und Folter sollte ich auf das Fläschchen beißen“, berichtet sie im Interview für die Zeitschrift „Wysokie Obcasy“.[3]

 

[1] Seit 1990 beherbergt das Gebäude in der Gdańska-Straße 13 in Łódź das Museum der Unabhängigkeitstraditionen (Muzeum Tradycji Niepodległościowych).

[2] Grzebałkowska, Magdalena: Bardziej Kloss niż Mata Hari. Halina Szwarc, in: „Wysokie Obcasy”, Nr. 38, 23.09.2000, S. 6–15.

[3] Ebenda.

Im Frühjahr 1943 wird Halina Kłąb zu einer zweiwöchigen Schulung in der Marineaufklärung geschickt. Dabei lernt sie, verschiedene Schiffstypen zu identifizieren, deren Waffensysteme sowie Wasserverdrängungswerte zu erkennen. Bald darauf begibt sie sich nach Hamburg. Dort sind bereits viele Agent:innen mit dem Auftrag unterwegs, Informationen über die deutsche Rüstungsindustrie zu sammeln und die Luftwaffenabwehrsysteme zu knacken. Die polnische Geheimagentin gibt sich als Touristin aus: Ein junges Mädchen mit Fotoapparat und Reiseführer erweckt keinen Verdacht. Sie lernt einen jungen Mann kennen, der beruflich eine Fähre für Werftarbeiter:innen betreibt. Dieser lädt sie zu einer Hafenrundfahrt ein. So kann sie diverse Anlagen entdecken und fotografieren, darunter auch Militäreinrichtungen.

Wie sich herausstellt, spielen die Informationen, die Halina Kłąb an die Alliierten liefert, eine Schlüsselrolle. Ende Juli und Anfang August 1943 führen die britische RAF und die amerikanischen USAAF eine Serie von flächendeckenden Bombenangriffen auf Hamburg durch – die sogenannte Operation Gomorrha. Nach den Luftangriffen, bei denen 1,7 Mio. Spreng- und Brandbomben auf die Stadt abgeworfen werden, liegen die meisten Gebäude in Schutt und Asche. Von einem Tag auf den anderen verlassen 1,2 Mio. Menschen Hamburg.[4] Den Alliierten gelingt es, sämtliche U-Boot-Werften sowie ein Dieselmotorenwerk zu zerstören. Dies beeinträchtigt die deutsche Rüstungskapazität erheblich und lässt die zweitgrößte Stadt Deutschlands kurzzeitig komplett stillstehen. Für ihren Verdienst um die Lokalisierung dieser Militäranlagen verleiht die polnische Exilregierung in London Halina Kłąb das Bronzene Verdienstkreuz mit Schwertern – eine Tapferkeitsmedaille für Taten, die nicht im unmittelbaren Kampf vollbracht wurden.

Halinas nächster Einsatzort ist Berlin. Sie meldet sich freiwillig zur Arbeit am Zentralarchiv für Wehrmedizin. Dort erhält sie Zugang zu sensiblen Daten über den Zustand der deutschen Armee. Sie soll Informationen über an der Ostfront verwundete Soldat:innen liefern. Zudem hat sie Zugriff auf Namen und Standorte von Militäreinheiten sowie die Anzahl von Verwundeten. Diese Informationen werden nach Polen und von dort aus an die Alliierten weitergegeben.

Im Mai 1944 reist Halina nach Łódź, um ihre Mutter zu besuchen. Zudem soll sie sich auf Geheiß ihres Vorgesetzten ausruhen. Kurz nach der Ankunft werden Mutter und Tochter jedoch in der elterlichen Wohnung von der Gestapo verhaftet. Halina wird konspirativer Aktivitäten beschuldigt. Später wird sich herausstellen, dass sie von einem Spitzel verraten wurde. Die beiden Frauen werden ins Gestapo-Gefängnis in der Danzigerstraße 13 (heute ul. Gdańska) in Łódź gebracht. Halina wird mehrmals brutal verhört. Die häufigste Foltermethode sind Schläge auf den Rücken und auf die Fersen. Schreien die Häftlinge zu laut, werden ihnen Gasmasken aufgesetzt. Doch Halina gibt trotz Folter und Demütigung keine Namen preis. Schließlich wird sie ohne Gerichtsverhandlung zum Tode verurteilt. Ihre Mutter wird ins Konzentrationslager Ravensbrück deportiert.

Halina Kłąb verbringt im Gefängnis acht Monate. Etwa ein Dutzend Tage lang muss sie in die sogenannte Dunkelzelle – einen stockdunklen Raum, der so niedrig ist, dass sie nicht aufrecht stehen kann. Als sich die sowjetischen Truppen bereits der Stadt nähern, beschließen die Deutschen daher Mitte Januar 1945, das Gefängnis zu „evakuieren“. Sie transportieren die Häftlinge in Richtung Westen, um sie dort zu „liquidieren“. 

„Gegen Mitternacht wurden wir alle in Achterreihen aus dem Gefängnis geführt. Wir gingen die stockdunklen, menschenleeren Straßen entlang durch die Stadt in Richtung Chojny, die Pabianicka-Chaussee entlang Richtung Pabianice. Es war eine eiskalte, sternenklare Nacht. Durch sämtliche Straßen, die aus der Stadt herausführten, flüchteten Zivilisten mit ihrem ganzen Hab und Gut. Überall waren Fuhrwerke voller Kinder und alter Menschen. Alles Deutsche, die in den Bauernhöfen der vertriebenen polnischen Bauern angesiedelt worden waren.“[5] So beschreibt Barbara Cygańska-Wiland, eine Mitinsassin von Halina, die Situation in Łódź an diesem Tag. Beiden Frauen gelingt im Dunkeln der Nacht die Flucht. Bald darauf folgen weitere ihrem Beispiel. Die spürbar nervösen deutschen Aufseher:innen geraten auf der Flucht vor den Sowjets immer mehr unter Zeitdruck und verzichten darauf, sie zu suchen.

 

[4] Operacja Gomora, Wikipedia, URL: https://pl.wikipedia.org/wiki/Operacja_Gomora (zuletzt aufgerufen am 30.09.2024).

[5] Cygańska-Wiland, Barbara: Wspomnienia z czasów wojny (1939–1945), S. 86. Das Zitat wurde dem Manuskript der Verfasserin entnommen. 2019 wurden ihre Memoiren vom Museum der Unabhängigkeitstraditionen in Łódź unter dem Titel Danzigerstrasse 13. Wspomnienia z czasów wojny (1939–1945) [Danzigerstraße 13. Erinnerungen an die Kriegszeit 1939–1945], hrsg. Von Dr. Sylwia Wielichowska, veröffentlicht.

Viele Jahre später gesteht Halina Kłąb-Szwarc im Interview für „Wysokie Obcasy“: „Als der Krieg zu Ende ging, war ich Anfang zwanzig, doch ich fühlte mich wie eine Sechzigjährige.“[6] Das Kriegsende bedeutet für Halina jedoch nicht die ersehnte Rückkehr zur Normalität. In den ersten Nachkriegsmonaten taucht sie unter, um nicht von der polnischen Staatssicherheit (Urząd Bezpieczeństwa, UB) verhaftet zu werden. Erst 1946 unterzieht sie sich einem rechtlichen Rehabilitierungsverfahren vor einem Gericht in Łódź. Ihre Vorgesetzten von der Heimatarmee bestätigen, dass sie die Deutsche Volksliste nur auf Geheiß der Armeeführung unterzeichnet hatte.

Danach zieht Halina nach Poznań (Posen), wo sie das in Wien begonnene Medizinstudium fortsetzt und Andrzej Szwarc heiratet. Doch die Zukunft sieht für ehemalige Mitglieder der Heimatarmee alles andere als rosig aus: Sie werden vom Sicherheitsapparat der kommunistischen Volksrepublik Polen schikaniert. Halina wird mehrmals zu stundenlangen Verhören vorgeladen, selbst als sie schon hochschwanger ist. 1951 wird sie aufgrund ihrer Vergangenheit gezwungen, ihre Stelle als wissenschaftliche Assistentin an der Medizinischen Universität Posen (Akademia Medyczna) aufzugeben. Halina Kłąb-Szwarc bringt zwei Kinder zur Welt: Sohn Andrzej (geb. 1951) und Tochter Anna (geb. 1958). In den darauffolgenden Jahren wechselt sie mehrmals den Job und forscht vorrangig im Bereich der Schilddrüsenerkrankungen von Patient:innen aus Großpolen. Sie gehört außerdem zu den ersten Ärzt:innen, die flächendeckende medizinische Untersuchungen bei KZ-Überlebenden anstoßen.

Doch erst nachdem Halina Kłąb-Szwarc 1964 nach Warschau zieht, bekommt ihre wissenschaftliche Karriere Aufwind. Sie wird Prodekanin und später stellvertretende Rektorin der Sporthochschule Warschau (Akademia Wychowania Fizycznego). Im Alter von 52 Jahren widmet sie sich einem völlig neuen Forschungsbereich: der Gerontologie – der Lehre von Alterungsprozessen. Im Laufe der Zeit entwickelt sie sich zu einer angesehenen Expertin. Zu ihren wichtigsten Leistungen in diesem Bereich zählt die Gründung der Seniorenuniversität (Uniwersytet Trzeciego Wieku, UTW) in Warschau im Jahre 1975. Als Vorbild diente eine ähnliche Einrichtung im französischen Toulouse. Später wird die Warschauer Seniorenuniversität nach Halina Szwarc benannt. Polen ist, nach Frankreich und Belgien, das dritte Land weltweit, in dem eine solche Förder- und Bildungsinitiative für Personen im Rentenalter entsteht.[7] Heutzutage gibt es landesweit mehr als 500 Seniorenuniversitäten (inkl. Filialen), an denen rund 90.000 Menschen studieren.[8]

Für ihren Einsatz im Zweiten Weltkrieg erhält Prof. Halina Kłąb-Szwarc zahlreiche Auszeichnungen, u. a. das Bronzene sowie das Silberne Verdienstkreuz mit Schwertern (für die Einsätze in Hamburg und Berlin) sowie den höchsten Militärverdienstorden Polens, Virtuti Militari. Ihr wird zudem das Komturkreuz zweiter Klasse mit Stern des Ordens Polonia Restituta verliehen.

Jahrelang wissen weder Angehörige noch Mitarbeiter:innen von Halina Kłąb-Szwarc von ihrem Einsatz im Zweiten Weltkrieg. Erst als im Jahre 1999 ihr Buch „Wspomnienia z pracy w wywiadzie ZWZ-AK“ („Erinnerungen an die Arbeit im ZWZ- und AK-Geheimdienst“) erscheint, lernt die Welt die Geschichte der jungen Geheimagentin kennen. Das Buch dient als Vorlage für die verfilmte Theateraufführung „Doktor Halina“ (2008, Regie: Marcin Wrona), sowie den Dokumentarfilm „Najmłodsza agentka“ (2023, Regie: Magdalena Majewska).

Halina Kłąb-Szwarc stirbt 2002 im Alter von 79 Jahren. Sie wird im Familiengrab auf dem Warschauer Powązki-Friedhof beigesetzt.

 

Monika Stefanek, Oktober 2024

 

Mit Dank an Prof. Andrzej Szwarc, Sohn von Prof. Halina Kłąb-Szwarc, für die Bereitstellung der Materialien, die beim Verfassen des vorliegenden Artikels verwendet wurden.

 

[6] Bardziej Kloss niż Mata Hari. Halina Szwarc...

[7] Uniwersytet Trzeciego Wieku, Wikipedia, URL: https://pl.wikipedia.org/wiki/Uniwersytet_trzeciego_wieku (zuletzt aufgerufen am 30.09.2024).

[8] Quelle: Statistisches Hauptamt (Główny Urząd Statystyczny), Daten für die Jahre 2021/2022.

Mediathek
  • Prof. Halina Kłąb-Szwarc als stellvertretende Rektorin der Sporthochschule Warschau

    Diese Funktion hatte sie in den Jahren 1969–1971 inne
  • Denkmal von Prof. Halina Kłąb-Szwarc in Łódź (Enthüllung im November 2021)

    Vor dem ehemaligen Gefängnis, in dem sie acht Monate in Erwartung der Vollstreckung ihres Todesurteils verbrachte
  • Denkmal von Prof. Halina Kłąb-Szwarc in Łódź (Enthüllung im November 2021)

    Vor dem ehemaligen Gefängnis, in dem sie acht Monate in Erwartung der Vollstreckung ihres Todesurteils verbrachte