Erinnerungen an Tadeusz Michał Siara in Marburg an der Lahn

In der ersten Veröffentlichung über Tadeusz Michał Siara, Absolvent der Kattowitzer Grafik-Abteilung der Akademie der Schönen Künste in Krakau, die 1976 in polnischer und englischer Sprache erschienen ist[1], heißt es, dass bereits die frühen Radierungen des Künstlers als bemerkenswerter Beitrag zur zeitgenössischen Druckgrafik bezeichnet wurden, im benachbarten Ausland aber nahezu unbekannt geblieben sind.
Dieser Zustand konnte wegen der politischen Verhältnisse damals bestenfalls durch persönliche Kontakte überwunden werden. Von der unerwarteten privaten Initiative aus Marburg an der Lahn überrascht, hatte Tadeusz Siara bereitwillig zugestimmt, in der Bundesrepublik auszustellen und die Rezeption seiner Arbeiten bei Sammlern und im Kunsthandel zu erkunden. Er sicherte den Transport aller Leihgaben zu, so dass die vorgesehene Retrospektive wie geplant vom 6. April bis 26. Mai 1979 stattfinden konnte. Geeignete Räume dafür standen in der Marburger Galerie in der Hofstatt im Zentrum der historischen Altstadt zur Verfügung. Ein kleiner, aber reichlich illustrierter Katalog[2], der vorab verbreitet wurde, brachte den erhofften Erfolg. Die Presse kündigte das Ereignis wohlwollend an, die Zahl der Besucher übertraf letztendlich alle Erwartungen.
Der Einladung, selbst nach Marburg zu reisen und bei der Eröffnung persönlich anwesend zu sein, folgte der Künstler gerne, obwohl sein erster Aufenthalt in Deutschland mit unerfreulichen Erinnerungen verbunden war. Die Familie wurde von der Waffen-SS nach Süddeutschland in die Nähe von Ulm verschleppt, wo der Vierjährige mit Eltern und Geschwistern bis über das Kriegsende hinaus bleiben musste.
Die gastliche Aufnahme an der Lahn, die ihm allenthalben zuteilwurde, und die Akzeptanz stifteten rasch Beziehungen, die sich unbelastet zu herzlicher Freundschaft entwickelt haben. Wann immer es möglich war, kam Tadeusz Siara alljährlich zurück; mehrfach auch mit Freunden und Kollegen, die der inzwischen ortskundig Gewordene zu den Denkmalen und Sehenswürdigkeiten der Stadt führte. „Hätte ich hier nicht Freunde gefunden“, schrieb er rückblickend, „wäre die Stadt für mich einer von vielen Punkten auf der Landkarte geblieben. So aber ist mir Marburg trotz trennender Grenzen zur zweiten Heimat geworden. Fragt daher nicht, wo mein Herz hingehört.“[3]
Ein sichtbarer Beweis für das liebenswürdige Bekenntnis ist die „Ankunft in Marburg“[4], eine aus zwölf kleinformatigen Veduten bestehende Folge, die zwar an vergleichbare Arbeiten von Bernhard Mannfeld (1848–1925), Ferdinand Justi (1837–1907) und Otto Ubbelohde (1867–1922) erinnern, mit ihrem expressiven Duktus aber über das schlichte Konterfei des Sichtbaren hinausgehen. In diesem Sinn gesteht Adolph von Menzel (1815–1905) im September 1847 in einem Brief an seine Schwester, er hätte sich in „Marburg, wo es himmlisch war, Wetter, Gegend, Stadt, Architektur in Kirchen und Schloß, Menschen usw. […] statt vier Tage [ganze] vier Wochen höchst interessant beschäftigen können.“[5]
Über 50 Radierungen, die der Künstler „Briefe“[6] nennt, resümieren Erinnerungen an Städte und Länder in aller Welt. Zusammen ergeben sie ein Notizbuch mit grafischen Stenogrammen, denen er manchmal, so auch den „Briefen aus Marburg“, von denen es zwei Fassungen gibt, handschriftliche Bemerkungen hinzufügt.
„Im Turm zu Babel“[7], der wichtigsten und umfangreichsten Folge, suchte der Künstler nach den Ruinen einer Kultur, die den Turm in frevelhaftem Übermut errichten wollte, aber an der Verwirrung unterschiedlicher Sprachen scheitern musste. Die Kennzeichnung jeder der 26 Blätter mit den Buchstaben des lateinischen Alphabetes betont die irreversiblen Folgen der Dichotomie von Bild und geschriebener Rede.
Zur Erschließung des umliegenden Geländes und der verfallenen Gebäude, stützt sich Tadeusz Siara auf traditionelle Methoden der archäologischen Praxis; er beseitigt Sedimente, entfernt den Schutt eingebrochener Decken und sichert geborstene Stufen. Irdene Kübel, steinerne Kisten und gemauerte Regalwände fordern die Phantasie des Betrachters heraus.
Zum Thema „Observatorium“ liegen derzeit sechs Radierungen und vier weitere für die Folge „Ausgänge“ vor. Auch wenn sie nicht beziehungsweise noch nicht als abgeschlossene Editionen mit Kommentar und Bibliografie erschienen sind, reflektiert der inzwischen hochbetagte Künstler unverdrossen die Geschichtlichkeit des Menschen und seines Umgangs mit den Dingen.[8]
Armin Geus, März 2025
Webseite des Künstlers: siaratadeuszm.pl
https://www.instagram.com/tmsiara/
[1] Wiesława Wierzchowska: Grafika dnia zwyczajnego. Graphical art and every day life. In: Projekt 115 (1976) 6, S. 18–21.
[2] Tadeusz Michał Siara. Radierungen. Katalog der Ausstellung vom 6. April bis 26. Mai 1979. Marburg 1979.
[3] Ankunft in Marburg. Zwölf Radierungen von Tadeusz Michał Siara mit einem Begleittext von Armin Geus. Marburg 1988.
[4] Ebd.
[5] Ebd., S. 6
[6] Tadeusz Michał Siara: Letters for the Left Hand. Katowice 1997.
[7] Tadeusz Michał Siara: Im Turm zu Babel. Sechsundzwanzig Radierungen mit einem Begleittext von Armin Geus. Marburg 1991.
[8] Armin Geus: Über die Transzendenz der Dinge. Zu den Radierungen des polnischen Graphikers Tadeusz Michał Siara. In: Graphische Kunst 35 (1990) 2, S. 52–56.