Ein Stück der „Solidarność“: Ein Mauerfragment von der Danziger Werft in Berlin
Es war August 1980, als sich der erste Vorbote des Umbruchs in Polen bemerkbar machte: Die polnische Wirtschaft steckte bereits seit fünf Jahren in einer tiefen Krise und zuletzt wurden am 1. Juli 1980 von der polnischen Regierung die Preise für Lebensmittel abermals drastisch erhöht. Die Stimmung kochte seither immer weiter hoch, bis sich der Unmut über die schlechten Lebens- und Arbeitsbedingungen schließlich öffentlichkeitswirksam in den frühen Morgenstunden des 14. August 1980 entlud: Aufgrund ihres politischen Engagements war die 51-jährige Kranführerin Anna Walentynowicz von der Leitung der Lenin-Werft in Danzig entlassen worden. Spontan solidarisierten sich die anderen Werftarbeiter, legten ihre Arbeit nieder, forderten die Wiedereinstellung der entlassenen Walentynowicz und zudem Lohnerhöhungen. Gegen 11 Uhr vormittags kletterte der arbeitslose Elektriker Lech Wałęsa nach eigener Aussage über die Mauer der zu diesem Zeitpunkt bereits geschlossenen Werft – und übernahm schließlich die Führung der Streikbewegung.
In den folgenden Tagen weitete sich dieser Okkupationsstreik weiter aus. Am 16. August formierte sich unter der Führung von Wałęsa eine organisierte, überbetriebliche Streikbewegung in Form des Zwischenbetrieblichen Streikkomitees (Międzyzakładowy Komitet Strajkowy – MKS). Solidaritätsstreiks mit den Streikenden der Danziger Lenin-Werft folgten in Krakau, Warschau, Posen, Łódź, Rzeszów, später auch in Waldenburg/Schlesien, Bielitz-Biala und Schweidnitz. Aus dem Anfangs wirtschaftlich und sozial begründeten Streik wurde eine politische Protestbewegung, die in den kommenden zwei Wochen das ganze Land erfasste. Am 31. August 1980 unterzeichnete Lech Wałęsa schließlich das „Danziger Abkommen“ mit dem erstmals in einem kommunistischen Land eine unabhängige Gewerkschaft anerkannt, gleichzeitig das Streikrecht und auch der Zugang zu den Massenmedien eingeräumt wurde. Es war der Anfang vom Ende des kommunistischen Regimes in Polen. Der Beginn einer demokratischen Wende in Mittel- und Osteuropa, die zur Überwindung der Teilung Europas und zum Fall der Mauer auch in Berlin beitrug.
Der berühmte Sprung Lech Wałęsas über die Werftmauer erhob das Gemäuer zu einem Symbol des Freiheitsgedankens in Polen. In Danzig wurde der Solidarność-Bewegung mit einem Stück der symbolträchtigen Mauer an der Straße ul. Wały Piastowskie ein Denkmal gesetzt. Und auch im deutschen Nachbarland, in welchem die Streikbewegung breite Solidarität in erfuhr, sollte ein gebührender Platz gefunden werden für ein Fragment des alten Mauerwerks, in dessen Nähe der Kampf für die Demokratie im kommunistischen Teil Europas begonnen hatte.
2009 kam auf Initiative des damaligen Sejmmarschalls Bronisław Komorowski ein Mauerstück als Geschenk des polnischen Parlaments an den deutschen Bundestag nach Berlin. Am 17. Juni 2009, dem 56. Jahrestag des Volksaufstands in der DDR von 1953, wurde die symbolträchtige Mauer im Beisein von Bundeskanzlerin Angela Merkel, Bundestagspräsident Norbert Lammert und Sejmmarschall Bronisław Komorowski als eine polnische Gedenkstätte am Reichstagsgebäude enthüllt.
Katarzyna Salski, Oktober 2018
Weitere Informationen:
Dieter Bingen, Vorreiter des Umbruchs im Ostblock. Von der Solidarność zum Kriegsrecht (1980-1981), 2009. (http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutsch-polnische-beziehungen/39757/polen-als-vorreiter-des-umbruchs?p=all (zuletzt aufgerufen am: 23.10.2018)