Die Macht des Netzes. Oder das Netzwerk polnischer Frauen in Deutschland
Diese Fragen habe ich Vertreterinnen befreundeter polnischer Frauenorganisationen in Deutschland gestellt. Als ich vor über vier Jahren in dieses Land kam, war mir nicht bewusst, wie wichtig ein soziales Netzwerk und das daraus resultierende Sozialkapital ist. In meinem Studium in Kraków (Krakau) und danach in meiner Arbeit habe ich ein solches Netzwerk lange mühelos gepflegt. Das Networking hat mir kein Kopfzerbrechen bereitet, da ich entweder deren Organisatoren und Teilnehmer kannte, oder ich kannte eine Person, die diese Menschen kannte. Das war deswegen so, weil die Theorie „der sechs Trennungsgrade“, der zufolge sich, grob gesagt, jede Person auf der Welt dank einer Kette von indirekten Beziehungen mit jeder anderen Person verbinden kann, in Kraków auf zwei Vermittler schrumpft!
Doch plötzlich habe ich meine geordnete Welt auf den Kopf gestellt und landete in Hamburg, wo ich außer meinem Ehemann niemanden kannte. Womit fängt man also an, wenn man Menschen kennenlernen will, mit denen man seinen Weg teilt? Natürlich mit einer Online-Recherche nach einschlägigen Angeboten, mit der Teilnahme an diversen Workshops und Initiativen oder mit dem Beitritt zu Facebook-Gruppen. Man kann aber auch versuchen, selbst etwas für sich und für die anderen zu tun, was mir schließlich durch meine Hamburger Mitstreiterinnen gegeben war. Diese Aktivität verstehen wir als Engagement für Frauen, denen an beruflicher und persönlicher Entwicklung, an Zusammenarbeit und an gegenseitiger Bestärkung gelegen ist, und die in der deutschen Gesellschaft präsent sein wollen ohne ihre Identität zu verleugnen. Zu diesem Zweck betreibe ich mit Ela Poszumska, die Frauen coacht, die Facebook-Gruppe Powerful Woman Community. Außerdem sind wir jetzt zusammen mit anderen Polinnen in Hamburg in der informellen Initiative „MyHH” aktiv, in der wir uns vernetzen, Begegnungen organisieren und Workshops abhalten.
In meinen wenigen Jahren in Deutschland habe ich viele ungewöhnliche polnische Frauen kennengelernt, die hier leben und NGOs gegründet haben oder in ihnen mitwirken, die sich in informellen Initiativen engagieren und die miteinander kooperieren, sich gegenseitig unterstützen und motivieren, und zwar sowohl in der virtuellen als auch in der realen Welt.
Das Hauptmotiv unseres Strebens nach Zusammenarbeit ist der Wunsch, Menschen kennenzulernen, die in den Worten von Dr. Adrianna Tomczak, der Moderatorin der Facebook-Gruppe Polki sobie radzą. Społeczność przedsiębiorczych emigrantek (Polinnen schlagen sich überaus gut. Gemeinschaft engagierter Migrantinnen): „Die Welt ähnlich wie wir sehen und gemeinsame Werte mit uns teilen. Sie haben aber auch vergleichbare Erfahrungen, aus denen wir selbst lernen können. Sie können außerdem eine Stütze für uns sein, wenn sich die ersten Enttäuschungen und Misserfolge einstellen.”
Den Sozialaktivistinnen ist wichtig, anderen zu helfen und ihre eigenen Erfahrungen in der Emigration mit ihnen zu teilen. Marzena Nowak, die Gründerin und Vorsitzende des Vereins Polki w Berlinie (Polinnen in Berlin), fasst es so zusammen: „Die Idee eines Vereins für polnische Frauen in Berlin kam mir schon vor Jahren in den Sinn. Bei Treffen mit Migrantinnen stieß ich auf ähnliche Probleme, Fragen und Bemühungen. Ich kann mich gut an meine eigenen Anfänge in Deutschland erinnern und weiß deshalb, wie schwer es ist, sich in einem anderen Land und in einer anderen Kultur wiederzufinden. Die erste Euphorie verfliegt schnell, was bleibt sind Ehrgeiz, Träume, Sehnsüchte und mit der Zeit schleichen sich Zweifel, Unrast und Ungewissheit ein. So entstand der Verein Polki w Berlinie!”
Noch andere Beweggründe hatten die Gründerinnen von agitPolska e. V., eines ebenfalls in Berlin tätigen Vereins, dessen ursprüngliches Ziel darin bestand, die polnische Kultur in Deutschland und die deutsche Kultur in Polen zu verbreiten. Inzwischen wurden jedoch neue Zielgruppen erschlossen und das Profil des Vereins um Projekte erweitert, die der gesellschaftlichen Teilhabe, Themen des Arbeitsmarkts sowie den Interessen von Frauen und Jugendlichen dienen, die Diskussionen anregen und Verbindungen fördern. Anna Czechowska, Mitglied im Vorstand des Vereins und Mitglied im Kuratorium von Porta Polonica, sagt: „Mein Kooperationsbedürfnis fußt auf meiner Überzeugung, dass wir unsere Idee und unsere Lösungsvorschläge nur durchsetzen können, wenn wir (auch bereichs- und parteiübergreifend) gemeinsam an bestimmten Themen arbeiten. Es ist wie in einem Mannschaftsspiel, bei dem jeder Einzelne für das Endergebnis und den Erfolg wichtig ist.”
Viele von uns, die Polen verlassen haben, vermissen den Gebrauch ihrer Muttersprache, besonders am Anfang, wenn wir die deutsche Sprache noch nicht fließend beherrschen oder nach gewisser Zeit, wenn die Kinder zur Welt kommen und uns daran liegt, dass sie mit ihren polnischen Familien und mit der polnischen Kultur in Kontakt bleiben können. Eben dies bringt Justyna Rygielska von der Hamburger Abteilung des Vereins POLin. Polnische Frauen in Wirtschaft und Kultur e. V. zum Ausdruck, wenn sie sagt: „(...) ich habe hier viele wunderbare Polinnen kennengelernt. Es gibt genug, mit denen und für die es sich lohnt, Initiativen in polnischer Sprache ins Leben zu rufen. Warum? Weil ich das brauche, um in meinen Kindern das Bewusstsein, polnisch zu sein, zu entwickeln.”
In vielen Geschichten polnischer Mütter, die ich hörte, trat die Förderung der polnischen Sprachkenntnisse ihrer Kinder als wichtiges Element ihrer Identität hervor. Manche von ihnen kamen selbst als Kinder nach Deutschland, so auch Dr. Katarzyna Mol-Wolf, Herausgeberin und Chefredakteurin der Zeitschrift „EMOTION”, die Ende März zu Gast beim Frauenbrunch in Hamburg war, den wir nach Abschluss des Projekts „PolMotion – Bewegung der polnischen Frauen” des Vereins agitPolska e. V. gemeinsam mit anderen Frauen am Sitz und mit Unterstützung der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius veranstaltet haben. Frau Dr. Mol-Wolf spricht unverändert polnisch und fühlt sich, wie sie selber sagt, durch die Sprache ihrer Kindheit mehr als Polin denn als Deutsche. Sie gab jedoch zu, dass es für sie nicht leicht sei, ihre Tochter dazu zu bringen, ihre polnischen Sprachkenntnisse weiterzuentwickeln.
Glücklicherweise entstehen in vielen Städten immer mehr Initiativen und Einrichtungen, die in ihren diversen Veranstaltungen und Aktivitäten Begegnungen mit der gelebten und nicht nur mit der in der Schule gelernten Sprache erlauben. In Berlin ist dies der schon erwähnte Verein Polki w Berlinie, dessen Angebot sich auch an Frauen wendet, die den Kontakt mit der polnischen Sprache pflegen und die polnischen Sprachkenntnisse ihrer Kinder gefördert wissen wollen. Auch der Berliner Verein SprachCafé Polnisch e. V. zeichnet sich durch rege Angebote auf diesem Gebiet aus, indem er Treffen, Veranstaltungen und Kurse für Eltern und Kinder organisiert, die von polnischsprachigen Müttern ins Leben gerufen wurden.
Der seit kurzem in Hamburg tätige Verein WIR zur Förderung der deutsch-polnischen Zweisprachigkeit Hamburg e. V. richtet an Wochenenden literarisch Veranstaltungen aus, die sich sowohl Klassikern als auch neu erscheinenden Kinderbüchern widmen. Ziel des Vereins ist, Kinder in ihrer deutsch-polnischen Zweisprachigkeit zu fördern, so dass sie sich in beiden Sprachen und Kulturen zu Hause fühlen, während sich die Eltern über ihre Erfahrungen mit der Zweisprachigkeit auszutauschen können.
Diese Initiativen bieten nicht nur Raum für Begegnungen mit der Sprache und mit der Kultur, sondern sie verschaffen den Kindern auch die Gelegenheit, sich mit Gleichaltrigen zu treffen und dabei zu entdecken, dass auch andere Kinder und Erwachsene in der Sprache der Mama beziehungsweise des Papas, die sie meist nur von zu Hause kennen, sprechen, und das sogar in der Öffentlichkeit!
Besonderen Wert auf den Status der polnischen Sprache als Herkunftssprache legt der erwähnte WIR-Verein, aber auch andere Organisationen und Personen sind hier engagiert, die sich in informellen Initiativen zusammenschließen, deren gemeinsamer Nenner ist, dass die polnische Herkunft für alle einen Mehrwert und keinen Grund zur Scham darstellt. „Ich schäme mich nicht dafür, Polin zu sein, (…) ich achte mein eigenes Land”, sagt Justyna Rygielska, die Initiatorin der „Chustopogadanki“ (Tragetuch-Plauderstündchen) für polnischsprachige Mütter, in denen es um den richtigen Einsatz von Kindertragetüchern geht.
Die genannten Organisationen und die von ihnen durchgeführten Maßnahmen erfüllen somit typische Aufgaben gemeinnütziger Einrichtungen. Sie ermöglichen Menschen, die ähnliche Interessen haben, gemeinsame Aktivitäten, wodurch sie das Leben dieser Menschen und der Community bereichern. Sie sind um das Gemeinwohl bemüht, handeln im Interesse von Minderheiten, fördern die soziale Integration und ergänzen in einigen Fällen auch die Bestrebungen des Staates, etwa im Hinblick auf den Zugang zu sprachlicher Bildung, oder sie leiten gar soziale Veränderungsprozesse ein.
Diese Organisationen stellen ein wesentliches Element der Demokratie und der Zivilgesellschaft dar. Dabei bildet ihre recht geringe Zahl nicht die Bedeutung der polnischen Minderheit in Deutschland ab, die nach den türkischstämmigen Mitbürgern die zweitgrößte Gruppe ist, wobei wir fast 900.000 Frauen die größte Gruppe der Migrantinnen aus Ländern der Europäischen Union darstellen. Gleichwohl sind wir in den Entscheidungsgremien, in der Politik, in der Kultur und in den Medien immer noch unsichtbar. Was aber hindert uns daran, im öffentlichen Leben aufzutreten? Können Mitgliedschaften in Vereinen und das Zusammenwirken die Partizipation und die Präsenz polnischer Frauen verbessern, um unseren Einfluss auf den gesellschaftlichen und kulturellen Alltag des Landes, in dem wir Leben, zu stärken?
Der Erfolg des Projekts „PolMotion – Bewegung der polnischen Frauen“ macht uns optimistisch. Das deutsch-polnische Mentoring-Programm, das in Berlin/Brandenburg, in der Region Hamburg/Bremen sowie in Bayern umgesetzt wurde, eröffnet neue Chancen auf politisches und kulturelles Engagement in Deutschland. Das Projekt zeigt aber auch die Probleme auf, mit denen die polnischen Akteurinnen beschäftigt sind. Anna Czechowska, Vorstandsmitglied von agitPolska und Koordinatorin des Projekts, resümiert treffend, worum es geht: „Arbeit auf freiwilliger Basis, fehlende Strukturen, das Denken von Projekt zu Projekt und fehlende Strategien, wie man andere Organisationen einbinden könnte.”
Bei alledem fehlt es uns sicher nicht an Energie und Engagement. Zudem verbinden uns viele Fragen, Themen und Probleme, die gelöst werden wollen und die zur Zusammenarbeit motivieren. Manche dieser Dinge betreffen uns auch selbst. Über sie sagt Dr. Adrianna Tomczak von Polki sobie radzą: „Ich habe mich darauf konzentriert, Polen, die ins Ausland ausgewandert sind, zu helfen, ihr Leben positiv zu verändern (…). Viele Menschen sagten mir, dies sei ein hoffnungsloses Unterfangen, ich sollte es lassen, wegen der Einstellung, der Mentalität. Die Polen seien eine Nation, die eher wenig integriert sei. Es wird Zeit, das zu ändern.”
Zum anderen, gibt es strukturelle Dinge, die wir beeinflussen können und müssen. Anna Czechowska nimmt darauf Bezug und sagt: „Ich bin dafür, die Strukturen in Deutschland zu verändern, indem man Frauen dazu animiert, sich in Parteien, Gewerkschaften und in der Verwaltung einzubringen. Wichtig für mich ist eine stärkere Präsenz polnischer Frauen sowie ihre Zusammenarbeit mit anderen Frauen, und zwar ganz unabhängig davon, ob sie einen Migrationshintergrund haben.”
Vorteile in diesem Sinne bieten Kooperationen, gemeinsames Wirken und schließlich das Networking zum Austausch von Informationen, Ressourcen, gegenseitiger Hilfe und von Möglichkeiten durch zunehmende Verknüpfungen untereinander, aber auch die klassische Kontaktpflege in der realen Welt, beispielsweise durch Teilnahme an Ereignissen und Projekten, die dafür nützlich sind.
Die technologische Entwicklung hat uns die Möglichkeit verschafft, Kontakte virtuell zu pflegen, was vor allem durch die Nutzung von „Social Media“-Kanälen begünstigt wird. „Dank ihrer, wenn auch nur virtuell, können wir Beziehungen zu anderen Menschen aufbauen, können wir Personen finden, die ähnlich denken und fühlen, selbst wenn uns manchmal tausende Kilometer voneinander trennen. Personen, die es in unserer unmittelbaren Umgebung nicht gibt“, schwärmt Dr. Adrianna Tomczak von Polki sobie radzą. So startete auch Dominika Rotthaler, die Gründerin der Gruppe Polki w Monachium (Polinnen in München), die sich zuerst in einem Blog unter dem Namen „Polka w Monachium” (Eine Polin in München) mitgeteilt hat und der heute „Pani Dominika” (Frau Dominika) heißt. Sie schreibt über die deutsche Kultur aus polnischer Sicht, über die Zweisprachigkeit, über das Leben in der Emigration, über interessante Angebote für Kinder sowie über Reisen durch Deutschland. Oft vermischen sich die beiden Formen dieser Aktivität oder sie gehen sogar ineinander über. Darüber spricht Adrianna, wenn sie sagt: „Für die Frauen in Italien entstand eine Schwestergruppe Polki sobie radzą. Przedsiębiorcze Polki we Włoszech (Polinnen schlagen sich überaus gut. Engagierte Polinnen in Italien), mit dem Unterschied, dass sie einen Schritt weiter gegangen sind und ihre Beziehungen aus der virtuellen in die reale Welt übertragen haben. Diese Frauen treffen sich in ihrem Kreis, regen sich untereinander an und entwickeln sich. (…) Dabei ist das nur der Anfang. Ich weiß, es gibt viele solche Initiativen in der ganzen Welt, da wir uns instinktiv nach der Anwesenheit und der Nähe eines Menschen sehnen, was nichts, kein Medium, je ersetzen wird.”
Ähnliche Empfindungen hatten wir bei dem erwähnten Hamburger Brunchs, zu dem fast 100 Frauen kamen. Alle haben das Bedürfnis ausgedrückt, solche Initiativen zu haben, die das Kennenlernen, den Aufbau von Partnerschaften sowie den Wissens- und Erfahrungsaustausch begünstigen. Von diesem Event hatten sie im Internet erfahren, durch Einladungen, die sie per E-Mail bekamen, durch Posts auf Facebook und natürlich auch durch Mundpropaganda. Das Treffen, die Gespräche und die „World Café“-Diskussionen über die Emanzipation der Frauen, zumal der Polinnen, über ihre Präsenz im öffentlichen Leben und ihren Zugang zum qualifizierten Arbeitsmarkt haben Emotionen und ein Gemeinschaftsgefühl geweckt.
Ela Poszumska fasste das poetisch zusammen, als sie sagte: „(…) ich muss immerzu daran denken, was für eine wunderbare Energie, welche Kraft und wie viel kostbare Überlegungen bei diesem Treffen zum Vorschein kamen. Das hat meine ohnehin starke Überzeugung, dass wir uns gegenseitig brauchen, noch mehr gestärkt. Wir müssen uns begegnen, und wir müssen unseren Reichtum teilen. Ich weiß auch, dass dies ein gewisses Maß an Fähigkeit zur Einsicht in den eigenen Reichtum, in die eigene Klugheit und in den eigenen Glanz verlangt. Sehen wir das alles nicht, sind wir nicht in der Lage, uns dafür zu öffnen, was in der Gruppe vor sich geht.”
Nutzen wir also die Macht des Netzes – sowohl im Sinne einer Kommunikationstechnologie als auch eines Netzwerkes.
Greta Gorgoń, Juli 2019
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