Die Findung der Sprache für die Bildbände der Erinnerung. 3 Thesen von Karl Schlögel zum geschichtlichen Erzählen

Wiesław Smętek: Karl Schlögel, 2024, elektronisch generiertes Portrait
Wiesław Smętek: Karl Schlögel, 2024, virtuelles elektronisch generiertes Portrait

Europäische Erinnerung als work in progress. Raum der Erzählungen.

Es mangelt nicht an Versuchen, ein europäisches Geschichtsnarrativ, eine europäische Geschichte auf einen Blick zu entwickeln (…). Das spricht für das starke Bedürfnis, zu sehen und zu begreifen, wie alles zusammenhing auf diesem doch so kleinem Territorium, auf dieser Landnase des eurasischen Doppelkontinents. Aber solche Zusammenschauen haben meist etwas von der Vogelperspektive an sich: zu weit weg, als dass sie eine integrative Erzählung sein könnten, in der die vielen widerstreitenden Erzählungen aufgehoben sind. Es kann sie auch nicht geben – vorerst jedenfalls nicht. Eine Erzählung kann nie weiter sein als die Erzähler selbst, und eine wahrhaft europäische Erzählung wird es erst geben, wenn sich so etwas wie ein europäischer Erfahrungshorizont herausgebildet hat, also nicht in absehbarer Zukunft. Das Optimum derzeit wäre nicht eine synthetische, wohl auch nur krampfhaft erzählte gemeinsage Geschichte, sondern der Versuch, die verschiedenen Erzählungen zu Gehör zu bringen. Das ist schwer genug, fast unmöglich, denn es ist auch eine Erzählung von Verletzungen und Kränkungen. Eine Geschichte der Zumutungen, eine Polyphonie der Geschichten, streckenweise dissonant und schmerzlich. Wenn die Europäer es aushielten, sich diese ihre Geschichte anzuhören, so wäre das mehr, als man derzeit erwarten kann. Dringlich ist also nicht die eine gemeinsame Geschichte, sondern dass der Raum, in dem die konkurrierenden Interpretationen und nationalen Narrative zu Gehör gebracht werden, nicht gefährdet wird.

(Karl Schlögel, Grenzland Europa, München 2013, S. 277–278)

 

Bulgakovs Entdeckung: Raum der totalen Willkür

Der magische Realismus Bulgakovs (Michail Bulgakov, „Der Meister und Margarita“) schien die literarische Form dessen zu sein, was einer historischen Erzählung erst noch bedurfte und deren Kern eben nicht die Geschichte des Terrors oder die Geschichte der Utopie war, sondern die Auflösung aller relevanten Unterscheidungen in einem Tohuwabohu der Selbstverwirrung und Selbstdestruktion, wo auch die Unterscheidung von Opfern und Tätern, jene fest etablierte Frontlinie, die das Gute vom Bösen, den Freund vom Feind, das Wahre vom Falschen unterscheidet, hinfällig geworden ist. Das Thema oder der Chronotop des Bolgakovschen Romans ist der Zusammenbruch der Unterscheidungen und die Entstehung eines Raumes der totalen Willkür, in dem alles möglich ist.

(ebd., S. 325)

 

Arbeit an den Bauformen historischen Erzählens

Es gibt nicht ein narratives Modell, sondern so viele Herangehensweisen, wie es Gegenstände, Stoffe, Konstellationen der geschichtlichen Welt gibt. Es gibt kein Standardverfahren und kein Standardnarrativ. Man muss für jeden Fall und immer wieder aufs Neue die angemessene Form finden. Das biographische Narrativ ist anders als das Narrativ einer Institutionen- und Bürokratiegeschichte, das Narrativ einer dramatischen Konstellation, in der eine Geschichte sich überschlägt, ist anders als das einer langsamen Zeit. Das alles verlangt mehr als Abarbeitung eines Modells oder eines Idealtyps. Der geschichtliche Ernstfall ist nicht die Illustration eines Modells, sondern eher umgekehrt: Modelle werden der Wirklichkeit abgerungen. Wir müssen der Wucht des Materials vertrauen und die Illusion fallenlassen, wir seien Herren des Verfahrens und könnten gleichsam über Geschichte wie über Versuchsanordnungen verfügen. Man muss nichts erfinden, nichts konstruieren und nichts ausprobieren. Wir müssen uns die Freiheit nehmen, uns von Begriffen und Schemata lösen. Ob wir mit einer Geschichte halbwegs klargekommen sind, wird sich nicht nur daran zeigen, ob sie den geschichtlichen Tatsachen entspricht, sondern daran, ob wir eine Sprache für sie finden, oder genauer: ob wir den Ton finden, der gewöhnlich die Musik macht.

(ebd., S. 332)

 

Zusammenstellung der Zitate nach Absprache mit Karl Schlögel: Jacek Barski, Juni 2024

 

 

Karl Schlögel, geboren 1948, ist ein deutscher Historiker, spezialisiert für Osteuropa. Er hat an der Freien Universität Berlin, in Moskau und Leningrad Philosophie, Soziologie, osteuropäische Geschichte und Slawistik studiert. Bis 2023 war er Professor für Osteuropäische Geschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder).

 

Publikationen (Auswahl):
 

American Matrix. Besichtigung einer Epoche. Hanser, München 2023

Der Duft der Imperien. Hanser, München 2020 

Das sowjetische Jahrhundert. Archäologie einer untergegangenen Welt. C. H. Beck, München 2017 

Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen. Hanser, München 2015 

Mit Irina Scherbakova: Der Russland-Reflex. Einsichten in eine Beziehungskrise. Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2015 

Grenzland Europa. Unterwegs auf einem neuen Kontinent. Hanser, München 2013 

Terror und Traum. Moskau 1937. Hanser, München 2008 

Das Russische Berlin. Ostbahnhof Europas. Ergänzte und aktualisierte Neuausgabe von: Berlin, Ostbahnhof Europas. Siedler, München 2007 

Marjampole oder Europas Wiederkehr aus dem Geist der Städte. Hanser, München 2005 

Im Raume lesen wir die Zeit: Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. Hanser, München 2003 

Petersburg. Das Laboratorium der Moderne 1909–1921. Hanser, München 2002 

Die Mitte liegt ostwärts: Europa im Übergang. Hanser, München 2002 

Promenade in Jalta und andere Städtebilder. Hanser, München 2001 

Go East oder Die zweite Entdeckung des Ostens. Siedler, Berlin 1995 

Das Wunder von Nishnij oder Die Rückkehr der Städte. Berichte und Essays. Eichborn, Frankfurt am Main 1991 

Der renitente Held. Arbeiterprotest in der Sowjetunion (1953–1983). Junius Verlag, Hamburg 1984 

Moskau lesen. Siedler, Berlin 1984 – Veränderte Neuauflage: Moskau lesen. Verwandlungen einer Metropole. Hanser, München 2011