Bochumer Schmiede
Für die Ruhrpolen war es fast wie ein Weihnachtswunder, als der polnische Priester Józef Szotowski am 23. Dezember 1884, kurz vor Heiligabend, die Stelle eines Kaplans der Pfarrei St. Peter in Bochum übernahm.
In dieser Gemeinde war er ausschließlich für die Polenseelsorge zuständig. Das war auch bitter nötig, denn die Menschen aus den preußischen Ostprovinzen fühlten sich in der neuen Umgebung des Rheinlands und Westfalens fremd und freuten sich auf den polnischsprachigen Priester. Józef Szotowski bezog seinen Wohnsitz im Kloster der Redemptoristen in Bochum. Von Bochum aus betreute er nicht nur die polnischen Zuwanderer in mehreren Ruhrgebietsstädten, sondern versah seinen seelsorglichen Dienst vereinzelt sogar in den Diözesen Köln und Münster. Noch ahnte er nicht, dass die zum Kloster führende Klosterstraße Anfang des 20. Jahrhunderts zum wichtigsten Ort für die Entwicklung des polnischen Lebens in Deutschland werden würde – zur berühmten „Bochumer Schmiede”.
Szotowski Nachfolger als Polenseelsorger, Dr. Franciszek Liss, lebte ebenfalls im Bochumer Redemptoristenkloster und trat am 1. April 1890 seinen Dienst an. Wie sein Vorgänger förderte er die Gründung polnisch-katholischer Vereine, von denen 1893 bereits über hundert im Ruhrgebiet existierten. Durch Liss, der in vielen Orten des Ruhrgebiets unterwegs war und dadurch als Bindeglied zwischen den vielen polnischen „Gemeinden“ fungierte, entwickelte sich Bochum zum organisatorischen Zentrum der „Ruhrpolen“.
Die national-polnischen Aktivitäten wurden von staatlicher und kirchlicher Seite äußerst misstrauisch beobachtet, da man befürchtete, dass sie der Wiedererrichtung eines unabhängigen polnischen Staates dienten. Sie liefen der Germanisierungspolitik des Deutschen Reiches zuwider, die den Gebrauch des Polnischen im öffentlichen Raum weitgehend untersagte. Die Polen waren zunehmend Ausgrenzung, Schikanen, Feindseligkeiten, Verleumdungen und polizeilicher Überwachung ausgesetzt. Die Reaktion war eine Intensivierung des Ausbaus der Selbstorganisation.
Ende 1890 gründete Liss die erste polnischsprachige Zeitung des Ruhrgebiets, den „Wiarus Polski“ (Polnischer Knappe) und schuf damit ein Medium, dass entscheidend zum Werden der sogenannten „Ruhrpolen“ beitrug. Die Druckerei und die Redaktion des „Wiarus“ befanden sich zunächst im Kloster selbst, dann in der Maltheserstraße 17 und später in der Klosterstraße 8-10. Von der Redaktion des „Wiarus“, insbesondere von seinem Chefredakteur Jan Brejski gingen in den folgenden Jahren entscheidende Impulse zur Gründung zahlreicher polnischer Zentralvereine aus.
So entstanden z. B. 1894 der „Związek Polaków w Niemczech ZPwN“ („Bund der Polen in Deutschland“), der 1910 mit der Organisation „Straż“ vereinigt und 1912 schließlich aufgelöst wurde, und 1902 „Zjednoczenie Zawodowe Polskie ZZP“ („Polnische gewerkschaftliche Vereinigung“). 1904 gründete sich der „Związek Wzajemnej Pomocy Polskich Towarzystw Katolickich dla Westfalii, Nadrenii i Prowincji Sąsiedzkich z Siedzibą w Bochum” („Bund polnisch-katholischer Vereine für gegenseitige Hilfe in Westfalen, im Rheinland und in den benachbarten Provinzen mit Sitz in Bochum“). 1922 gründete sich in Berlin der Bund der Polen in Deutschland e. V. (Związek Polaków w Niemczech t.z.), dessen Geschäftsstelle der „Dzielnica III“ in Bochum eingerichtet wurde.
Um den Raumbedarf aller dieser Institutionen zu decken wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Klosterstraße sieben Häuser (die Hausnummern 2-14) von Privatpersonen erworben und die Räume an die polnischen Organisationen weitervermietet. Nach und nach gingen vier Häuser in den Besitz von polnischen Organisationen über (Hausnummern Nr. 2-8). In den Häusern waren untergebracht:
- Nr. 2 Bank Robotników (Arbeiterbank)
- Nr. 4 Zjednoczenie Zawodowe Polskie (Polnische gewerkschaftliche Vereinigung)
- Nr. 6 Kasa depozytowa Bank Handlowy eGmbH (Filiale der Handelsbank)
- Komitet Wykonawczy (Ausführendes Komitee)
- Związek Polaków w Niemczech t.z. (Bund der Polen in Deutschland e. V.) – seit 1923
- Narodowa Partia Robotnicza (NSR) (Nationale Arbeiterpartei)
- Centrala bibliotek ludowych (Zentrale der Volksbüchereien)
- Sekretariat Towarzystw Szkolnych (Sekretariat der Schulvereine)
- Nr. 8 Wiarus Polski (Redaktion und Druckerei)
- Nr. 10 Soziales Büro der Reichstagsfraktion
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Räumlichkeiten des Wiarus Polski
- Nr. 12 Abteilung Bergbau der polnischen Gewerkschaft ZZP
- Nr. 14 an Privatpersonen vermietet
Während sich unter der deutschen Bochumer Bevölkerung für die Klosterstraße die schlichten Bezeichnungen „Polnischer Querschlag“ oder „Klein Warschau“ einbürgerten wurde die Klosterstraße für die polnischen Migranten zur „Kuźnia Bochumska”, zur „Bochumer (Kader-)Schmiede”. Sie war ein Symbol des polnischen Lebens im Ruhrgebiet und in Deutschland. In ihrem Umfeld konnten Eliten und Aktivisten des polnischen Lebens gebildet, ja geschmiedet werden, wie z. B. Jan Kaczmarek, einer der bekanntesten Repräsentanten der Polen in Deutschland.
Nach dem deutschen Angriff auf Polen 1939 wurden die Häuser in der Klosterstraße Nr. 2-8, die im Besitz polnischer Organisationen waren, von den Nationalsozialisten geplündert und beschlagnahmt. Die Mitarbeiter der Organisationen wurden massiv durch das NS-Regime verfolgt. Nach Kriegsende nahm der „Bund der Polen in Deutschland e. V.“ in der Klosterstraße Nr. 6 (heute Am Kortländer 6) seine Arbeit wieder auf. Heute erinnert der Schriftzug „Bank Robotników e. G. m. b. H.“ an der Seitenwand des Hauses Nr. 2 noch an das einstige Zentrum polnischen Lebens in Deutschland.
Adam Gusowski / Sabine Krämer, Dezember 2013
Weiterführende Literatur:
Haida, Sylvia: Die Ruhrpolen. Nationale und konfessionelle Identität im Bewusstsein und im Alltag, 1871-1918, Univ. Diss. Bonn 2012 (Internetpublikation).
Kleßmann, Christoph: Polnische Bergarbeiter im Ruhrgebiet 1870-1915, Göttingen 1978.
Schade, Wulf: Kuźnia Bochumska – die Bochumer (Kader-) Schmiede, in: Bochumer Zeitpunkte. Beiträge zur Stadtgeschichte, Heimatkunde und Denkmalpflege 2005, Nr. 17, S. 3-21.