Henryk Marcin Broder: deutsches Denken mit jüdischer Vernunft und polnischem Herz

Henryk Marcin Broder, 2013
Henryk Marcin Broder, 2013

Eine weitere Eigenschaft der Migranten aus Polen, die Broder offenbar ebenfalls geprägt hat, ist die Furcht vor der Frage nach der Herkunft und der nationalen Identität. Wenn man sich in der neuen Lebenswelt erst suchen und positionieren muss, dann scheint es in der Regel nicht nur unmöglich, sondern ist auch lästig, eine solche Frage zu beantworten. Dies wird in den sogenannten Mehrheitsgesellschaften in den meisten Fällen nicht begriffen. Solche Erfahrungen haben insbesondere prominente Deutsche jüdischer und polnischer Herkunft, wie etwa Marcel Reich-Ranicki, gemacht und Antworten daher konsequent verweigert oder sind in literarisch-symbolische Konstruktionen ausgewichen.

Vielleicht ist dies bei Broder auch der Grund dafür, dass er sich, wie die meisten Migranten, in den Vereinigten Staaten von Amerika so gut aufgehoben fühlt, einem Land, in dem man als Fremder mit einer geradezu unumstößlichen Selbstverständlichkeit und ohne lästige Fragen einfach dazu gehört.

Ab den 1970er Jahren griff Broder Themen um den wieder aufkommenden Antisemitismus in Deutschland auf. Es folgte in diesem Kontext auch seine berühmt-berüchtigte Auseinandersetzung mit der linken Szene, die vor allem zwei gravierende Folgen hatte: Broder wurde zum Bestsellerautor und er verließ 1981 Deutschland in Richtung Israel. Ohne es vorher geplant zu haben blieb er dort für zehn Jahre. 

In seinen Texten aus dieser Zeit wird deutlich, dass Broder systematisch eine analytische Vernunft entwickelt hatte und künftig einsetzte, um die Komplexität, die Tabus und Verkrampfungen im deutsch-jüdischen Verhältnis zu behandeln. Charakteristisch wird dabei die gedankliche Präzision seiner Analysen und Schlussfolgerungen. Auf diese Weise ist sein Schaffensicherlich eine der Geburtsstätten einer neuen jüdischen Vernunft, die vor allem auf die Garantie der Sicherheit der Juden und ihres Staates angesichts des neuen globalen Antisemitismus abzielt. 

Wie ein roter Faden ziehen sich durch Broders Schaffen und durch seine immer intensiver werdende mediale Präsenz die Entlarvung der politischer Unwahrheiten und der Kampf mit dem, was einst Jean-Paul Sartre als Mauvaise foi[3] (die Unaufrichtigkeit gegenüber sich selbst) bezeichnet hatte. Diese Besonderheit der Psyche, die für Sartre eine nicht ablegbare Grundeigenschaft der menschlichen Existenz war, ist für Broder ein Hauptgrund der zwischenmenschlichen Missverständnisse, mit denen er immer wieder den Kampf aufnimmt.

 

[3] Jean-Paul Sartre, Das Sein und Das Nichts, (L´être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique, Librairie Gallimard, Paris 1943, deutsche Ausgabe: Das Sein und das Nichts, Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Reinbek bei Hamburg, 1991, S. 154