Wiarus Polski – Eine polnische Zeitung aus dem Ruhrrevier
Der „Wiarus Polski“ als Teil einer politischen Strömung
Der „Wiarus Polski“ als effektiver und einflussreicher Organisator nationalpolnischen Lebens im Ruhrgebiet der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert war bereits mehrfach Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung.[1] Deutlich wurde dabei aber nicht, dass er Teil eines politischen Konzepts aus dem Milieu der Ruch Ludowy (Volksbewegung) war und wie dieses aussah. Man muss aber, wenn man „Wiarus Polski“ liest, dieses Milieu mitdenken.
Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandene Ruch Ludowy war Teil einer Neuorientierung unter nationalbewussten Polinnen und Polen in allen drei Teilungsgebieten. Sie betonten nach den gescheiterten Aufständen für die Wiederherstellung eines polnischen Staates den Vorrang für den Aufbau von polnischen Wirtschafts-, Gesellschafts- sowie Bildungsorganisationen, um eine polnische Infrastruktur und ein Nationalbewusstsein unter der polnischsprachigen Bevölkerung zu entwickeln. Der Katholizismus war dabei ein unverzichtbarer Bestandteil. Man war sich bewusst, dass sich nur ein relativ geringer Teil der polnischsprachigen Katholiken als Polinnen und Polen im nationalen Sinne verstand und bereit war, aktiv für einen eigenständigen polnischen Staat einzutreten. Deshalb musste perspektivisch v. a. die Land- wie auch die abhängig beschäftigte Bevölkerung der Städte vom Polentum überzeugt werden. Die sich als Teil dieser politischen Neuorientierung entwickelnde Ruch Ludowy lehnte darüber hinaus die althergebrachte ständische Gesellschaft ab. Sie forderte für die bisher am Rande der politischen Bedeutung stehenden Schichten der Bevölkerung das gleiche Recht und dieselben Möglichkeiten, sich in einer Gesellschaft zu entwickeln, wie das für die bisher vorherrschenden Schichten galt. Um ihre Interessen wirksam vertreten zu können, müssten sich diese eigenständig organisieren. Mit dieser Positionierung stellte sie sich in Gegensatz zu der mit der traditionellen nationalen Elite verbundenen Nationaldemokratie, zu der auch Teile der katholischen Kirchenhierarchie gehörten, wie auch zu der sich mehr und mehr herauskristallisierenden Christdemokratie.
Vom religiös-polnischen Blatt unter Pfarrer Liss ...
Ursprünglich gründete 1890 Pfarrer Liss aus Westpreußen, der als katholischer Seelsorger für die polnischsprachigen Katholiken im entstehenden Ruhrrevier eingesetzt worden war, den „Wiarus Polski“. Er wollte mit dieser in polnischer Sprache erscheinenden Zeitung den sich in der neuen Umgebung fremd fühlenden Menschen religiösen Halt, darüber hinaus aber auch gesellschaftliche Orientierung geben. Um das zu erreichen, musste man, so Liss im Herbst 1892, den Menschen im Ruhrgebiet „ein politisches Blatt an die Hand geben – und eine religiöse Zugabe als Würze. Anders würde sich ein religiöses Blatt gar nicht halten.“[2] Diese Äußerung wie auch die Wahl des Namens verdeutlicht bereits den Charakter, der den „Wiarus Polski“ von Beginn an auszeichnete: Einerseits war er eine Zeitung für die polnischsprachigen katholischen Arbeiter und sollte sie vor religiöser und moralischer Verwahrlosung sowie vor der erstarkenden Sozialdemokratie bewahren, andererseits war er gerade deshalb von Beginn an eine am gesellschaftlichen Tagesgeschehen orientierte Zeitung. Darüber hinaus drückte er aber auch, deutlich erkennbar an seinem Namen, einen nationalen ‚Auftrag‘ aus. Dieser bestand darin, sich für ein Wiedererstehen Polens einzusetzen. „Wiarus, ins Deutsche etwa übersetzbar mit „altgedienter, tapferer Soldat, Veteran, alter Krieger“ symbolisiert das Paradigma des in der Zeit der polnischen Romantik entstandenen polnischen Kämpfers, der nach den Teilungen Polens (1772-1795), vorwiegend aus dem Exil heraus, unermüdlich auf zahlreichen Schlachtfeldern und als Krieger in unterschiedlichen nationalen Armeen für die Wiedergeburt Polens kämpfte.“[3] Der „Wiarus Polski“ wandte sich an die wachsende Zahl polnischsprachiger Katholiken, die aus verschiedenen Regionen und Orten des preußischen Ostens in das sich herausbildende Ruhrrevier zur Arbeit gekommen waren. Die große Mehrheit fühlte sich als Ermländer, Oberschlesier, Posener usw. und war in der neuen Umgebung stark verunsichert. Die Selbstbewussteren unter ihnen gründeten deshalb, meist mit Unterstützung der örtlichen deutschen Pfarrer, polnisch-katholische Arbeitervereine, die ähnliche soziale und kulturelle Funktionen erfüllten wie die landsmannschaftlichen Vereine der deutschsprachigen Zuwanderer. Die Menschen der verschiedenen Regionen verband aber über die polnische Sprache und den katholischen Glauben hinaus kein umfassendes kulturell-ethnisches oder gar nationales Bewusstsein. Wollte man das vorhandene Regionalbewusstsein, das mit dem der zugewanderten deutschsprachigen Menschen beispielsweise aus Hessen, Saarland, Bayern oder Paderborner Land vergleichbar war, zu einem einheitlichen Nationalverständnis entwickeln, musste es überwunden und zugunsten eines gemeinsamen Paradigmas „Ich bin katholisch und Polin!“ bzw. „Ich bin katholisch und Pole!“ ersetzt werden.
Pfarrer Liss versuchte, den Regionalismus zu überwinden, indem er die katholische Religiosität zusammen mit der polnischen Sprache als einigendes Band unter diesen Menschen zu bewahren sowie zu stärken bemüht war. Ausdruck davon war die unter dem Zeitungstitel platzierte Losung „Bete und arbeite!“ (Módl się i pracuj!). Die Entwicklung eines nationalen Bewusstseins war zunächst nachrangig, wurde aber durch die Vorstellung polnischer Nationalhelden und Feiertage, der Organisierung von Festen zu ihrem Gedenken wie auch durch den Abdruck polnischer Literatur gefördert. Sie war aber noch keine politische Losung. Deutlich wurde das durch die Feststellung in der ersten Ausgabe des „Wiarus Polski“, dass ein Pole im Westen bei Wahlen nur dem „Zentrum“ seine Stimme geben könne, da diese eine katholische Partei sei.[4] Polnische Kandidaten aufzustellen, um das nationale Bewusstsein zu entwickeln, wie das nach der Jahrhundertwende geschah, stand noch nicht zur Debatte.
[1] z. B. Christoph Kleßmann, Der „Wiarus Polski“ – Zentralorgan und Organisationszentrum der Polen im Ruhrgebiet 1891-1923, in Beiträge zur Geschichte Dortmunds und der Grafschaft Mark, Bd. 69, 1974, S. 383-397; Adam Gusowski, Wiarus Polski, www.portapolonica.de/de/Atlas-der-Erinnerungsorte/wiarus-polski
[2] Zit. nach Krystyna Murzynowska, Die polnischen Erwerbsauswanderer im Ruhrgebiet während der Jahre 1880-1914, Dortmund 1979, S. 107
[3] Jacek Barski, „Odezwa do Polaków w Herne i okolicy!” Aufruf an die Polen in Herne und Umgebung, in Wölk, Ingrid (Hg.), Hundert sieben Sachen, Bochumer Geschichte in Objekten und Archivalien, Essen 2017, S. 249
[4] Murzynowska, a.a.O., S. 95
… zum national-polnischen Blatt mit demokratischer Gesellschaftsprogrammatik unter Brejski
Nachdem Jan Brejski die Zeitung 1893 als Verleger und Chefredakteur übernommen hatte, rückte die Entwicklung und Stärkung eines polnisch-nationalen Bewusstseins nach und nach in den Mittelpunkt der journalistischen und organisatorischen Arbeit des „Wiarus Polski“. Die katholische Religion blieb aber weiterhin untrennbarer Bestandteil. Ausdruck der Akzentverschiebung war die veränderte Losung unter dem Zeitungstitel: Stand dort in den ersten gut zehn Jahren das „Bete und arbeite!“ wurde sie Anfang des 20. Jahrhunderts durch „Im Namen Gottes für Glauben und Vaterland!“ („W imię Boże za Wiarę i Ojczyznę!“) ersetzt. Während Pastor Liss also katholischer Seelsorger mit polnisch-nationalem Bewusstsein war, war Brejski ein nationalpolnischer Politiker, zu dem der Katholizismus als notwendiger Bestandteil dazugehörte.
Bei seiner Arbeit verfolgte Brejski eine durchdachte politische Agenda. In einem Aufruf vom 24. Mai 1903 an die Wähler seines Wahlkreises in Westpreußen wurde diese Konzeption ausführlich vorgestellt. Brejski unterstrich, dass er Pole und Katholik sei, und bezeichnete sich als „obywatel ludowiec“, also als Anhänger der Ruch Ludowy: Er verstand sich als ein Politiker für die ‚kleinen Leute‘. Ausdrücklich nannte er dabei die Arbeiter, die Handwerker und kleinen Kaufleute sowie die bäuerliche Landbevölkerung. Die im Aufruf genannten gesellschaftspolitischen Forderungen für einen gerechten Staat entsprachen weitgehend denen für eine parlamentarische, bürgerlich-demokratisch strukturierte Gesellschaft, wie sie ähnlich von bürgerlich-liberalen Organisationen und der Sozialdemokratie vertreten wurden: Gleichberechtigung aller Stände, Religionsbekenntnisse und Nationalitäten, umfassende Pressefreiheit, Gewaltenteilung, darunter unabhängige Gerichtsbarkeit, allgemeine und gleiche Wahlen für alle Parlamente im Staat. Allerdings fehlte hier die Forderung des Frauenwahlrechts. Weiter wurde die volle Organisationsfreiheit für alle Teile der Bevölkerung, also auch für die unteren Gesellschaftsschichten, wie auch ein kostenloses Bildungssystem bis hin zur Universität gefordert. Ausdrücklich lehnte Brejski jede Form von Klassenherrschaft ab und vertrat ganz im Sinn der katholischen Soziallehre den gesellschaftlichen Solidarismus, d.h. dass alle unterschiedlichen Schichten, auch die wohlhabenden, ihren Platz in der Gesellschaft hätten und diese gleichberechtigt gemeinsam organisieren müssten.
Dieser Aufruf wurde in der Ausgabe des „Wiarus Polski“ vom 23. Februar 1918 unter der Überschrift „Unser Programm“ (Nasz Program) mit der ausdrücklichen Feststellung nachgedruckt, dass es auch redaktionelle Grundlage des „Wiarus Polski“ gewesen war und weiterhin sei. Das Ziel der nationalpolnischen Arbeit der Ludowcy um den „Wiarus Polski“ war demnach, „den polnischen Arbeitern in der Fremde Mittel zur effektiven Verteidigung ihrer materiellen Bedürfnisse an die Hand zu geben, ohne den nationalen wie den religiös-moralischen Interessen zu schaden. Als eines der effektivsten Mittel, die zu diesem Ziel führen, erachten wir (der „Wiarus Polski“– WS.) Organisationen, die sich auf eine gesunde Bildung und auf allseitige Aufklärung und Selbstständigkeit aller Landsleute stützen. (…) Bis heute (1918-WS.) ist das unser Bestreben“ (Übersetzung-WS.).
Unfreiwillige Unterstützung
Hilfe beim Aufbau solcher Organisationen und der Entwicklung eines nationalpolnischen Bewusstseins erhielt der „Wiarus Polski“ unfreiwilligerweise durch die rücksichtslose Germanisierungspolitik des Kaiserreiches, die die aktive Zustimmung der deutschen konservativen Organisationen und Parteien wie auch weitgehend der beiden deutschen christlichen Kirchen fand. Besonders deutlich drückte sie sich in der fortschreitenden Unterdrückung der polnischen Sprache im öffentlichen Raum aus, was zu einem Bekenntnis zum Polentum auch bei polnischsprachigen Menschen führte, die sich damit bisher nicht umfassend identifiziert hatten. Wollte man denn einen zentralen Teil seiner kulturellen Identität bewahren, stand man in direktem Gegensatz zum Staat und den ihn dabei unterstützenden Institutionen. Man wurde quasi zum Polnischsein gezwungen.[5]
Aber auch die nur sporadische Akzeptanz der polnischsprachigen Arbeiter als solche durch die großen deutschen Gewerkschaften, den mit dem katholischen Zentrum verbundenen Christlichen Gewerkverein und den sozialdemokratisch orientierten Alten Verband, stieß einen Großteil von ihnen vor den Kopf. Man konnte sich beispielsweise nicht dazu durchringen, regelmäßig erscheinende polnischsprachige Gewerkschaftszeitungen herauszugeben, die über die betrieblichen, aber auch sonstigen Belange der Arbeitswelt informierten. Auch polnischsprachige Vertreter in Knappschaftsvertretungen und Betriebsausschüssen, wie sie seit Ende des 19. Jahrhunderts immer wieder gefordert wurden, wurden nicht oder nur halbherzig unterstützt. Diese Missachtung der kulturellen Identität durch Unentschlossenheit, oftmals vermischt mit nationalen Ressentiments, begünstigte ebenfalls die nationale Arbeit des „Wiarus Polski“. Mit seinen eigenen Seiten, aber auch durch die Herausgabe der regelmäßig erscheinenden Beilage „Stimme der Hütten-und Bergarbeiter“ (Głos Górników i Hutników) wurde das Informationsbedürfnis polnischsprachiger Arbeiter über die Ruhrregion und deren betrieblichen Probleme, ihre Herkunftsregionen, aber auch über bedeutende überregionale Ereignisse und neue Gesetzesvorhaben berücksichtigt. Dabei bediente sich der „Wiarus Polski“ verschiedener sprachlicher Mittel, um die Orientierung hin zum Polentum zu fördern. Wenn die Redaktion von den Herkunftsregionen seiner Leserinnen und Leser berichtete, fasste sie diese unter der Rubrik „Aus der Heimat“ („Z stron ojczystych“) zusammen, wenn sie Nachrichten aus dem Ruhrrevier brachte, nannte er diese „aus der Fremde“ („na obczyźnie”). So wahrte er auch sichtbar die Distanz zum aktuellen Wohnort und machte deutlich, dass nicht das Deutsche Kaiserreich Heimatland war, sondern die durch Preußen einverleibten, eigentlich polnischen Gebiete.
[5] siehe dazu ausführlich: Wulf Schade, Statt Integration organisierte Ausgrenzung und Verfolgung, Zur Diskussion über die „Integration“ der „Ruhrpolen“, in: Märkisches Jahrbuch für Geschichte, Band 117, 2018, S. 155-202
Die Organisierung der Arbeiter als nationale Politik
Dem von Brejski 1903 für seinen Wahlkreis formulierten nationalpolnischen Programm entsprach die vom „Wiarus Polski“ im Ruhrrevier organisierte Arbeiterpolitik, die als eine zentrale Aufgabe die Gründung einer eigenständigen nationalpolnischen Arbeiterorganisation vorsah. Die durchaus nennenswerte gewerkschaftliche Organisierung polnischsprachiger Arbeiter in deutschen Gewerkschaften um die Jahrhundertwende[6] stellte aber für dieses Ziel eine Gefahr dar. Sie zeigte, dass sprachliche und kulturelle Unterschiede nicht zwangsläufig eine unüberwindbare Hürde bedeuteten, denn das gemeinsame Vorgehen in den Auseinandersetzungen am Arbeitsplatz gegenüber den Unternehmern führte die Arbeiter unabhängig von ihrer Herkunft zusammen. Wollte man also erfolgreich eine nationalpolnische Arbeiterorganisation aufbauen, musste neben der kulturellen Diskriminierung das durch die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in den Betrieben entwickelte Klassenbewusstsein berücksichtigt werden. Dass diese nationalpolnische Organisation die Form einer Gewerkschaft annahm, lag deshalb nahe.
Durch die fortwährende Berichterstattung des „Wiarus Polski“ und der „Stimme der Hütten- und Bergarbeiter“ sowie durch Diskussionen auf öffentlichen Versammlungen wurde der Boden für die Gründung einer eigenständigen Arbeiterorganisation vorbereitet. Auf dieser Grundlage initiierte im Jahre 1902 der „Wiarus Polski“ zusammen mit aktiven Arbeitern aus den Betrieben die Gründung der „Polnischen Berufsvereinigung“ (Zjednoczenie Zawodowe Polskie – ZZP), einer Gewerkschaft mit nationalpolnischer Ausrichtung, jedoch mit ähnlichen sozialpolitischen Betriebs- und Gesellschaftsvorstellungen wie sie der Alte Verband vertrat. Die ZZP lehnte – wie der „Wiarus Polski“ in Abgrenzung zur Sozialdemokratie – jede Klassenherrschaft ab und sprach sich ebenfalls mit ausdrücklichem Bezug zur katholischen Soziallehre für den gesellschaftlichen Solidarismus aus. Sie unterstrich allerdings, ganz im Sinne der Ruch Ludowy, die Notwendigkeit einer eigenständigen Organisierung der Arbeiter, wenn sie innerhalb einer Gesellschaft ihre berechtigten Interessen durchsetzen wollten. Mit dieser Ausrichtung, aber auch der systematischen Qualifizierung polnischer Arbeiter für die betrieblichen und überbetrieblichen Vertretungsorgane sowie mit der aktiven Teilnahme am Bergarbeiterstreik 1905 gewann die ZZP nicht nur eine große Anzahl bisher gewerkschaftlich unorganisierter Arbeiter, sondern ebenso das Vertrauen eines bedeutenden Teils der in den beiden großen deutschen Gewerkschaften organisierten polnischsprachigen katholischen Arbeiter und erleichterte ihnen den Wechsel zur ZZP.
Die Gründung der ZZP stieß nicht nur innerhalb der deutschen Gesellschaft auf Widerspruch, sondern wurde aufgrund der ideologischen Ausrichtung der ZZP auch auf nationalpolnischer Seite mit Skepsis vernommen. Eine schichtenspezifische Organisation, die sich nicht nur als Teil der polnischen Nation empfand, sondern innerhalb dieser auch als Kampforganisation zur Durchsetzung ihrer Interessen verstand, ging v. a. der „in der Heimat“ einflussreichen Nationaldemokratie zu weit. Die Unteilbarkeit des polnischen Volkes wurde betont. Man warf der ZZP vor, von sozialistischen Grundsätzen durchdrungen zu sein, wofür nicht zuletzt der „Wiarus Polski“ als deren Initiator und publizistisches Organ verantwortlich gemacht wurde. Ähnliche Kritik kam von christdemokratischen Organisationen. Auch wenn diese nicht gegen jede Interessenorganisation im Stile einer Gewerkschaft waren, sollte diese sich als Vertretungs- und nicht als Kampforganisation innerhalb der eigenen Nation verstehen. Gegen die der ZZP von Seiten der nationaldemokratischen und christdemokratischen Organisationen gemachten Vorwürfe, sie würde zum Klassenkampf aufrufen, verteidigte der „Wiarus Polski“ diese und warf wiederum den Angreifern vor, sie würden die Erneuerung des alten adelig-klerikalen Polen anstreben bzw. sich mit den neuen großkapitalistischen Ausbeutern verbünden.
Mit der Gründung und erfolgreichen Entwicklung der ZZP innerhalb weniger Jahre zur mitgliedermäßig stärksten und gesellschaftspolitisch schlagkräftigsten nationalpolnischen Organisation im Ruhrgebiet war ein zentrales Ziel der Arbeit des „Wiarus Polski“ verwirklicht. Aus der zahlenmäßig größten Gesellschaftsgruppe, der Arbeiter, heraus war eine eigenständige Organisation auf nationalpolnischer Grundlage entstanden, die für ihre Interessen als unterprivilegierte Schicht eintrat und „auf eine gesunde Bildung und auf allseitige Aufklärung und Selbständigkeit aller Landsleute“ Wert legte. Wie sich in den Jahren bis zum Ersten Weltkrieg, noch ausgeprägter dann während der Revolutionsjahre in Deutschland 1918/19 zeigte, war diese Organisation nicht bereit, sich den von der Nationaldemokratie und Christdemokratie beeinflussten politischen Weisungen „aus der Heimat“ unterzuordnen.
Eine ähnliche Dominanz seiner politischen Vorstellungen konnte der „Wiarus Polski“ in den anderen nationalpolnischen Zusammenschlüssen „in der Fremde“ nicht dauerhaft durchsetzen. Zwar hatte er seinen Anteil daran, dass durch die nationale Arbeit der hier zusammengefassten Vereine, Institutionen und Einzelpersonen zehntausende polnischsprachiger Katholiken zu Personen wurden, die ein Nationalbewusstsein entwickelt hatten und sich nun als Polen und Polinnen verstanden. Nicht erreicht aber hatte er, dass Eigenständigkeit und Selbstbehauptung im politischen Handeln gegenüber „der Heimat“ wesentlich für die im Ruhrrevier entstandenen Zusammenschlüsse wurden. Hauptfelder der Auseinandersetzungen zwischen dem „Wiarus Polski“ und den nationaldemokratischen wie christdemokratischen Organisationen waren die 1897 erstmals entstandenen Wahlkomitees, zusammengefasst im „Hauptwahlkomitee in der Fremde“, das formal dem Zentralen Wahlkomitee mit Sitz in Posen unterstand sowie die überörtlichen Verbünde polnisch-katholischer Arbeitervereine und polnischer Kulturorganisationen, z. B. der Chöre, der Jugend- und Frauenvereine, der Sportvereine des „Sokół“ oder Volksbibliotheken. Von Bedeutung war hier auch das 1913 als politische Vertretung aller Polinnen und Polen sowie ihrer Organisationen „in der Fremde“ gegründete „Ausführende Komitee“ (Komitet Wykonawczy).
[6] Franciszek Mańkowski, Dzieje Związków Polskich (Geschichte der polnischen Gewrkschaften), in: Kalendarz Górniczy na Rok Pański 1913, Bochum 1913, S. 113-132, hier S. 121 f.
Unterschiedliche Gruppen werden sichtbar
Die noch Anfang des 20. Jahrhunderts dominante Position des „Wiarus Polski“ schwächte sich im Laufe der Jahre ab, was sich in der Etablierung des seit 1909 in Herne herausgegebenen christdemokratisch orientierten „Narodowiec“ („Der Nationalbewusste“) niederschlug. Dieser erreichte bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges im Ruhrgebiet mit 12.000 Exemplaren täglich eine ähnlich hohe Auflage. Damit wurde deutlich, dass innerhalb des nationalpolnisch entwickelten Bevölkerungsteils des Ruhrreviers eine wachsende Gruppe eher konservativ-christlicher Polinnen und Polen existierte, die der Politik des „Wiarus Polski“ skeptisch gegenüberstand oder diese ganz ablehnte. Diese Ablehnung verstärkte sich, je öfter die ZZP mit dem Alten Verband in sozialpolitischen Angelegenheiten betrieblich wie überbetrieblich zusammenarbeitete. Dafür wurde auch der „Wiarus Polski“ mitverantwortlich gemacht. Die Zusammenarbeit wurde für die ideologische Hinwendung einer zunehmenden Anzahl von polnischen Arbeitern innerhalb wie außerhalb der ZZP zu sozialdemokratischen Positionen verantwortlich gemacht, die sich deutlich in der wachsenden Anzahl von polnischen SPD-Wählern bei den Reichstags- und Landtagswahlen zeigte.[7] Vor dem Ersten Weltkrieg war die 1910 beginnende Koordinierung der Lohnforderungen mit dem Alten Verband und der kleinen liberalen Hirsch-Dunckerschen-Gewerkschaft[8] sichtbarster Ausdruck des gemeinsamen Vorgehens, das in dem letztlich verlorenen Streik von 1912 endete.
Das Wahlverhalten bei den Parlamentswahlen vor dem Ersten Weltkrieg machte ein wachsendes Selbstbewusstsein gegenüber nationalpolnischen Organisationen bei einem anderen Teil der polnischen Bevölkerung sichtbar. Im ersten Wahlgang wählte man den polnischen Kandidaten, wie es die nationalpolnischen Organisationen, darunter auch der „Wiarus Polski“, forderten, und demonstrierte so gegenüber dem deutschen Staat seine eigene kulturelle Identität. In den Stichwahlen aber wählten seit 1907 eine ständig größer werdende Anzahl von ihnen unabhängig vom Willen der nationalpolnischen Organisationen oder sogar gegen deren ausdrücklichen Weisungen die Kandidaten der SPD. Diese Entwicklung stellte den „Wiarus Polski“ vor große Probleme, denn es war nicht zuletzt sein Klientel, das sich so verhielt. Zwar wollte er eine selbstbewusste Mündigkeit ‚seiner Polen‘, diese sollte aber auf dem Boden der antisozialdemokratischen Ideologie der Ruch Ludowy fußen. Die Niederlage im Streik 1912 versuchte der „Wiarus Polski“ deshalb offensiv für eine Vertiefung der nationalen Kluft zwischen den deutschen und polnischen Teilen der Gesellschaft zu nutzen. In besonders aggressiver Sprache warf der „Wiarus Polski“ dem Alten Verband vor, die polnischen Arbeiter missbraucht zu haben, indem er diese in vorderster Linie habe streiken lassen, während die deutschen Arbeiter im Hintergrund geblieben wären. Höhepunkt dieser ‚nationalen Offensive‘ war die Formulierung, der jegliche Zusammenarbeit mit Deutschen außerhalb der Betriebe verbietenden „Zehn Gebote für Polen“, die „in einer schon ans Groteske grenzenden und blasphemisch anmutenden Weise eine religiöse Form mit nationalistischem Inhalt füllten“.[9] Sie wurden am 12. Juni 1913 im „Wiarus Polski“ veröffentlicht.
Die Revolution in Deutschland und der „Wiarus Polski“
Mit Beginn des Ersten Weltkrieges traten die Differenzen unter den nationalpolnischen Organisationen zurück und man stimmte als deutsche Staatsangehörige ähnlich der oppositionellen Sozialdemokratie loyal dem vom deutschen Kaiser geforderten Burgfrieden zu. Die ZZP schloss mit den deutschen Gewerkschaften einen Bund, um die Interessen der Arbeiter und Arbeiterinnen gemeinsam zu vertreten. Diese Zusammenarbeit bekam ab 1916 eine immer größere Bedeutung und funktionierte bis in die 1920er Jahre.
Das Verhältnis zum deutschen Staat begann sich spätestens seit der Erklärung des US-Präsidenten Wilson im Januar 1918, dass ein unabhängiges Polen mit Zugang zum Meer ein Ergebnis des Friedensschlusses sein müsse, zu ändern. Die politische Arbeit im Deutschen Reich richtete sich nun hauptsächlich auf die Rückkehr ins zukünftige Polen aus, denn dort sah man seine Zukunft und die der polnischen Bevölkerung „in der Fremde“. Ein Ausdruck der Umorientierung war die vom „Wiarus Polski“ im Oktober 1918 mitunterzeichnete zu Beginn dieses Textes, angeführte Erklärung polnischer Organisationen und Redaktionen zum Staatsgebiet des sich abzeichnenden Polen.
Diese Konzentration auf die Rückkehr nach Polen behielt der „Wiarus Polski“ auch bei, als grundlegende Veränderungen in der Staatsstruktur des Deutschen Reiches durch die Revolution im November 1918 eintraten. Die Abschaffung des monarchistischen Ständestaates und die Einführung einer parlamentarischen Demokratie entsprachen durchaus seinen Vorstellungen eines Staatsaufbaus. Außerdem erweiterte sie den Spielraum für die polnischen Organisationen. Deshalb wurde die Revolution auch vom „Wiarus Polski“ eindeutig begrüßt. Allerdings änderte das nichts an seiner Überzeugung, dass die Menschen sich natürlicherweise in Nationen teilen, die bestrebt sind, sich in eigenen Staaten zu organisieren. Deshalb warnte er vor einer Parteinahme im Deutschen Reich für die eine oder andere demokratische oder revolutionäre Fraktion und riet, sich von Kundgebungen und Demonstrationen fernzuhalten. Es sei nicht die Sache der Polinnen und Polen, über die Organisierung des neuen deutschen Staates nachzudenken, das sollten die Deutschen unter sich ausmachen. Nur wenn die grundlegenden demokratischen Errungenschaften in Gefahr gerieten, sei Engagement von polnischer Seite von Nöten. Alles andere wäre Sache der Deutschen, die Polen seien nur Gast, ihre Heimat sei Polen. Deshalb forderte der „Wiarus Polski“ von den Polinnen und Polen, sich ihrer nationalen Pflicht entsprechend in polnischen Organisationen zusammenzuschließen. Die Zusammenarbeit der ZZP im Gewerkschaftsverbund als gemeinsame Vertretung der Arbeiterinteressen unterstützte er allerdings weiterhin, denn sie dienten direkt der Verbesserung der Lebensverhältnisse der Polen und Polinnen. So veröffentlichte er am 25.10.1918 die Erklärung der ZZP im Oktober 1918 über die erfolgreichen Verhandlungen der vier Gewerkschaften mit den Zechenbesitzern Westfalens und des Niederrheins, in der die Akzeptanz der Gewerkschaften durch die Arbeitgeber als Verhandlungspartner als Durchbruch der Rechte der Arbeiter begrüßt wurde.
Solange die Polinnen und Polen noch in Deutschland lebten, waren sie nach Ansicht des „Wiarus Polski“ weiterhin zur Loyalität gegenüber dem Staat verpflichtet. Vor diesem Hintergrund war es konsequent, dass er wie auch die ZZP sowohl die Aufrufe und Streiks gegen den Kapp-Putsch im März 1920 wie auch gegen die Ruhrbesetzung durch die französischen und belgischen Armeen 1923-25 unterstützte. Die Loyalität endete aber dort, wo sie in Konflikt mit den Gebietsinteressen des neuen Polen standen. So trat der „Wiarus Polski“ anlässlich der Abstimmungen in Schlesien und Ostpreußen entsprechend dem Versailler Vertrag unzweideutig für die Stimmabgabe zugunsten Polens ein. Das führte im Falle Schlesiens zu einem 14-tägigen Erscheinungsverbot im März 1920.
[7] siehe dazu Murzynowska, a.a.O, insbesondere Kapitel V 3. Die Wahlkämpfe und die wachsende politische Bedeutung der Polen im Ruhrgebiet
[8] Der Christliche Gewerkverein boykottierte diese Zusammenarbeit und rief während des Streiks seine Mitglieder zur Arbeit auf.
[9] Kleßmann , a.a.O. S. 394, dort auch Nachdruck der zehn Gebote.
Das neue Polen
In den innerpolnischen Diskussionen über die gesellschaftspolitische Struktur des neuen Polens gab es unterschiedliche Vorstellungen. Mit der Veröffentlichung des Aufrufs von Brejski im Februar 1918 unter der Überschrift „Unser Programm“ hatte der „Wiarus Polski“ seine Positionen öffentlich gemacht, die er in den folgenden Monaten weiterentwickelte. Er forderte eine parlamentarische Demokratie und warnte vor der Wiederbelebung eines klerikal-ständischen Staates. Auch dürften die Rechte der Arbeiter im neuen Polen nicht hinter denen im Deutschen Reich, die sie vor und während der Revolution errungen hatten, zurückfallen. Das würde dazu führen, dass ein großer Teil der polnischen Bevölkerung sich einer Rückkehr ins neue Polen verweigern würde. Mit seiner kritischen Berichterstattung über die politischen und rechtlichen Verhältnisse in Polen sowie dessen wirtschaftlichen Möglichkeiten warnte der „Wiarus Polski“ seine Landsleute wiederholt vor einer übereilten Rückkehr. Auch wenn sie patriotische Pflicht sei, müsse sie wohl überlegt und nur in Abstimmung mit dem polnischen Staat erfolgen.
Der „Wiarus Polski“ warf der Nationaldemokratie und Christdemokratie vor, in der Vergangenheit die Arbeit unter der Landbevölkerung v.a. „in der Heimat“ vernachlässigt zu haben. Sie seien deshalb dafür verantwortlich, dass das nationale Bewusstsein unter diesen Landsleuten gering sei und das Deutschtum dort großen Einfluss habe. Deshalb unterstützte und förderte er die Aktivitäten der ZZP zur Gründung der „Abteilung für die Agrar- und Landarbeiter im ZZP“ (Oddział robotników Rolnych ZZP). Diese Gründung war vor allem in der Provinz Posen und in Westpreußen erfolgreich, wie die Wahl der „Nationalen Partei der Arbeiter“ (Narodowe Stronnictwo Robotników – NSR s.u.) bei den Provinzwahlen 1919 in der Provinz Posen und 1920 in Westpreußen zeigten.
Wie der „Wiarus Polski“ orientierte auch die ZZP trotz der Zusammenarbeit mit den deutschen Gewerkschaften auf die Rückkehr nach Polen und bestand auf den Erhalt der in Deutschland errungenen Arbeiterrechte im neuen Polen. Deshalb gründete sie am 18. Oktober 1917 in Wanne-Eickel mit Unterstützung des „Wiarus Polski“ eine eigene Partei unter dem Namen „Nationale Partei der Arbeiter“, zu deren Sitz Posen bestimmt wurde. Diese Partei sollte die nationalbewussten Polen im gesamten Deutschen Reich ansprechen und ihre politische Vertretung im neuen Polen sein. Als im Herbst 1919 in Folge der Gründung Polens die NSR „in der Fremde“ einen eigenständigen Status erhielt, wurde der „Wiarus Polski“ deren offizielles Organ. Deutlich lesbar stand nun in seinem Zeitungskopf: „Wiarus Polski, Organ der Nationalen Arbeiterpartei der Polen“ (Organ „Narodowego Stronnictwa Robotników“). Mit der Organisierung einer polnischen Partei und der Orientierung auf eine Rückkehr nach Polen sollte gleichzeitig einer Entnationalisierung der klassenbewussten Polen und Polinnen in Deutschland durch die zunehmenden Einflüsse revolutionärer Kräfte der Boden entzogen werden. Um sie auf die Rückkehr nach Polen vorzubereiten und in ihrem nationalen Bewusstsein im revolutionären Deutschland zu stärken, kam nach Ansicht von NSR, ZZP und „Wiarus Polski“ ihrer geistigen Ausbildung zentrale Bedeutung zu. Deshalb ergänzten sie die bereits seit 1916 aufgebaute Bildungsstruktur, die in „Bochum, und anderen Orten Westfalens und des Niederrheins Kurse auf niedrigem und höheren Niveau (organisierte), um systematisch das Wissen über die polnische Grammatik, Schrift, Geschichte, Erdkunde, Literatur (…)“[10] zu entwickeln, durch die Gründung einer polnischsprachigen „Volksuniversität“ (Uniwersytet Ludowy). Laut einer Veröffentlichung im „Wiarus Polski“ teilte der Vorstand der NSR anlässlich ihrer Eröffnung am 16. August 1919 in Bochum mit, dass die von universitären Kräften durchgeführten „akademischen Vorlesungen“ mit über 2000 Teilnehmern einen größeren Zuspruch erhalten hatten als erwartet.
[10] Krok naprzód (Ein Schritt vorwärts), Wiarus Polski v. 13.8.1919 (Übersetzung-WS.)
Zwischen nationaler Aufgabe und revolutionärem Umbruch
Der „Wiarus Polski“ versuchte durch seine Berichterstattung, die Unterstützung von ZZP, NSR und der nationalpolnischen Bildungseinrichtungen sowie die publizistische Zurückweisung nationaldemokratischer wie christdemokratischer Angriffe gegen die „bolschewisierten Westfalen“ seiner sich selbst gestellten Aufgabe, zusammen mit möglichst vielen polnischsprachigen Katholikinnen und Katholiken geordnet nach Polen überzusiedeln, nachzukommen. Jedoch waren die Umstände sehr schwierig.
Die zunehmende gesellschaftliche Radikalisierung von Polinnen und Polen, auch aus dem Umkreis des „Wiarus Polski“, der NSR und der ZZP, zeichnete sich bereits vor Ausbruch der Revolution im November 1918 ab. Um diese Personen weiterhin für die nationale Sache zu erreichen, musste der „Wiarus Polski“ seine Rhetorik entsprechend anpassen. So sprach er beispielsweise bereits im Februar 1918 in dem o.g. Artikel „Unser Programm“ von „Klasseninteresse“ (interesy klasowe) und „Klassenbewusstsein“ (klasowość). Gleichzeitig unterstrich er deutlich die nationalen Ziele bei der in den folgenden Monaten diskutierten Programmatik der NSR, um die Übernahme allzu radikaler Positionen zu verhindern. Ganz offensichtlich aber schritt die Radikalisierung unter polnischen Arbeitern in der Folgezeit weiter voran. Der „Wiarus Polski“ sah sich gezwungen, wollte er den Kontakt zu diesen Arbeitern nicht verlieren, die Diskussion noch weiter, bis hin zu sozialistischen Positionen zu öffnen. Deutlich zeigten sich diese in dem programmatischen Artikel „Volkspolen“ („Polska ludowa“) vom 9. Oktober 1918, wo festgestellt wurde: „Wir wissen nicht, ob das Wohl des Volkes (…) nicht in fünf, zehn, fünfzehn Jahren zu einer Vergesellschaftung aller Arbeitsstätten, ja auch des Bodens zwingt.“ (Übersetzung-WS.) Der mit solchen Gedanken verbundenen Gefahr, den nationalen gesellschaftlichen Solidarismus programmatisch durch einen klassenkämpferischen Sozialismus zu ersetzen, trat der „Wiarus Polski“ mit verstärkter nationaler Positionierung, zunehmend aber auch mit antisemitischer Diskreditierung des Sozialismus entgegen. So behauptete er wiederholt, dass maßgebliche Führer der russischen, deutschen wie auch polnischen Sozialisten und Bolschewisten Juden waren und wies jede Zusammenarbeit innerhalb der polnischen Bevölkerung mit „nichtpolnischen Organisationen“ zurück.
Im neuen Polen gab es von konservativen Kräften genährte politische Bestrebungen, die in ihren Augen „bolschewisierten Westfalen“ an der Rückkehr nach Polen zu hindern. Darüber hinaus war der neue polnische Staat in den ersten Jahren nicht in der Lage, mehr als wenige Zehntausend Menschen „aus der Fremde“ aufzunehmen. Im republikanischen Deutschland hatte die Revolution starken Einfluss, das nationale Bewusstsein trat oftmals zu Gunsten sozialistischer Vorstellungen in den Hintergrund. Wie durch verschiedene Artikel und Meldungen im „Wiarus Polski“ ab Herbst 1918 deutlich wurde, beteiligte sich ein bedeutender Teil der polnischen Männer und Frauen aktiv an Demonstrationen und Kundgebungen der radikalen Linken. Die Bindungskraft nationalpolnischer Organisationen verlor bei einem nicht unbeträchtlichen Teil der polnischen Bevölkerung an Stärke. Immer wieder warnte der „Wiarus Polski“ deshalb, sich von den deutschen Revolutionären missbrauchen zu lassen und bezeichnete es als Pflicht aller Polinnen und Polen, sich in nationalen Organisationen zu vereinigen und deutsche zu meiden. Alles andere sei Verrat an der eigenen Nation. In diesem Sinne verurteilte er das Verhalten polnischer Bergarbeiter bei den Arbeiterkammerwahlen im Juni 1919, denn diese hatten trotz polnischer Kandidaten mehrheitlich die sozialdemokratischen gewählt.
Obwohl die ideologische Bindungskraft des „Wiarus Polski“ an Kraft verlor, behielt er als Informationsorgan in polnischer Sprache über die politische und wirtschaftliche Entwicklung in Polen und damit verbunden über die Übersiedlungsmöglichkeiten dorthin sowie mit der Berichterstattung und Kommentierung polnischen Lebens in Deutschland einen hohen Stellenwert. So waren seine Berichte über die alltäglichen Diskriminierungen durch die deutschen Behörden und die Kirchen, die auch nach der Revolution nur wenig abgeschwächt wurden sowie die gewaltsamen Störungen polnischer Versammlungen durch deutsch-nationale Organisationen dazu geeignet, an einer friedlichen Zukunft in Deutschland zu zweifeln. Die Abstimmungen 1920/21 in Ostpreußen und Schlesien über die dortigen Grenzziehungen verschärften noch einmal die nationalen Spannungen, die diesmal auch durch nationalistische Teile der deutschen Sozialdemokratie gefördert worden waren. Nur einige bürgerlich-demokratische Gruppen und Personen wie auch Syndikalisten und Kommunisten stellten sich dem nationalen Wahn entgegen. Auf Seiten der polnischen Bevölkerung schien sich die ständig wiederholte Feststellung im „Wiarus Polski“, dass der Deutsche niemals dem Polen ein Bruder sein kann, zu bewahrheiten. Man fühlte, dass man trotz immer wieder praktizierter Loyalität zum deutschen Staat nicht erwünscht war. Das führte letztlich neben der Übersiedlung nach Polen zur Auswanderung einer großen Zahl von Polinnen und Polen nach Frankreich und Belgien, darunter auch vieler derjenigen, die sich für die neue demokratische Staatsstruktur in Deutschland aktiv eingesetzt hatten. Die nationalpolnischen Organisationen lösten sich eine nach dem anderen auf, auch der „Wiarus Polski“ verlor seine Basis und siedelte im Jahre 1923 nach Frankreich über, wo er mit Unterbrechungen noch bis 1961 erschien.
Wulf Schade, November 2018