Verbotene Liebe: Ermordung von Leon Szczepaniak in Stadecken-Elsheim
Das Schicksal von Leon Szczepaniak und Margarete Hess
Nach dem deutschen Überfall auf Polen geriet Leon Szczepaniak im Jahre 1939 als Unteroffizier der polnischen Armee in deutsche Kriegsgefangenschaft.[1] Szczepaniak wurde am 10. Februar 1912 in Lisice, Kreis Kolo (polnisch: Koło) bei Posen in der Wojewodschaft Großpolen geboren. Im Alter von sieben Jahren war er bereits Vollwaise und zog gemeinsam mit seiner drei Jahre älteren Schwester nach Lodz (Łódź). Nachdem Szczepaniak nach Kriegsausbruch in deutsche Gefangenschaft geraten war, musste er zwei Jahre lang in der Landwirtschaft im rheinhessischen Elsheim[2] in verschiedenen Betrieben arbeiten. Dort lernte er die junge Deutsche Margarete Hess kennen. Das Verhältnis des 29-jährigen Szczepaniak und der 22-jährigen Hess wurde im Jahr 1941 beim damaligen Bürgermeister zur Anzeige gebracht. Er leitete die Meldung nach Wiesbaden weiter, so dass am 1. September 1941, genau zwei Jahre nach dem deutschen Überfall auf Polen, Szczepaniak in Sonderhaft genommen und Hess an diesem Tag ebenfalls von Gestapobeamten verhaftet wurde. Hess‘ Verhaftung erfolgte um fünf Uhr in der Frühe, dabei wurde sie körperlich misshandelt. Im Bericht des Pfadfinderstammes Greifenklau, herausgegeben nach September 1975 unter der Leitung des katholischen Pfarrers Dr. Ludwig Hellriegel (geb. am 3. April 1932 in Bensheim, gest. am 13. Oktober 2011 in Malching), der sich durch seine Recherche und seine Gedenkinitiative um die Aufarbeitung des NS-Verbrechens in Elsheim in herausragender Weise verdient gemacht hatte, wurden die Ereignisse während des Krieges weiter beschrieben:
„Am 22. September 1941 wurde sie [Hess] von einem Sondergericht in Mainz wegen verbotenen Umgangs mit Kriegsgefangenen und weil sie ‚ihr Deutschtum und ihre Frauenwürde vergessen‘ zu anderthalb Jahren Zuchthaus verurteilt.
Leon Szczepaniak wurde in der Haft dazu überredet aus der polnischen Armee auszuscheiden und einen Zivilarbeitervertrag zu unterschreiben. Nun unterstand er der SS- und Polizeiführung des Reichrasse- und Siedlungsamtes[3] in Berlin. Dort wurde ein sogenannter Eindeutschungsantrag da Leons Mutter Deutsche war, abgelehnt.
Am 27 Mai 1941 wurde Leon gefesselt nach Elsheim gebracht. Alle polnischen Zivilarbeiter (gegen 200) aus der Umgebung waren zum Gelände des heutigen Sportplatzes gebracht worden. Sie mußten mitansehen, wie das sogenannte Sonderbehandlungskommando aus Wiesbaden Leon zu einem rasch montierten Galgen brachte. Ein Wagen mit einem Sarg fuhr hinter Leon. Leon mußte eine Leiter besteigen, die Schlinge sich selbst um den Hals legen, dann zog ein Gestapomann die Leiter weg. Während die polnischen Zivilarbeiter an der Leiche vorbeigehen und dem Erhängten [sic] die Hand geben mußten, aß das Hinrichtungskommando in einer benachbarten Wirtschaft Spargel und Schinken.“
Auf dem Standesamt gab man, neben dem festgehaltenen Todeszeitpunkt, 27. Mai 1942 um 11:30 Uhr, auch in zynischer Weise die Todesursache zu Papier: Genickbruch. Der Leichnam wurde anonym in Mainz bestattet und zwar auf dem Hauptfriedhof (Mainz Hauptfriedhof F. U2 R. 15 Nr. 45[4]).
Pfarrer Hellriegel war es auch, der in einer unter seiner Herausgeberschaft in den Jahren 1989 und 1990 veröffentlichten fünfbändigen Publikation zum Thema des Widerstandes gegen das NS-Regime und zur Verfolgung durch das NS-Regime im Bistum Mainz die Ereignisse noch einmal zusammenfasste:
„Während in Stadecken von einer „verbotenen Liebe“ einfach keine Notiz genommen wurde, mußte in Elsheim der polnische Kriegsgefangene Leon Szczepaniak dafür mit dem Leben und seine deutsche Freundin, Margarete Hess, die Tochter kleiner unpolitischer Leute, mit fast zweijähriger Gefängnishaft zahlen. Die Aufarbeitung dieser Mordtat fand noch über dreißig Jahre später ein zwiespältiges Echo.“[5]
Dabei verwies Pfarrer Hellriegel auch auf die Widerstände, die auf Seiten der lokalen Bevölkerung mit der die Schaffung eines Zeichens, das an den ermordeten Szczepaniak erinnern sollte, verbunden waren.
[1] Soweit nicht anders angegeben, stammen die Informationen aus der Quelle DPSG-Leiterrunde [Deutsche Pfadfinderschaft Sankt Georg] des Stammes Greifenklau der Pfarrei Schwabenheim (Hrsg.): ‚Zeichen der Versöhnung‘. Eine Dokumentation. Bericht des DPSG-Stammes Greifenklau, in der Pfarrei Schwabenheim. Pfarrarchiv St. Bartholomäus Schwabenheim, 1977.
[2] Elsheim im Landkreis Mainz-Bingen wurde 1969 Teil der Gemeinde Stadecken-Elsheim.
[3] Rasse- und Siedlungshauptamt (RuSHA) der SS.
[4] Informationen über Gräber von Ausländern im Kreis Mainz, 2.1.3.1 RP 026 4/70815911/ITS Digital
Archive, Arolsen Archives: https://collections-server.arolsen-archives.org/G/wartime/02010301/0029/134773849/001.jpg
[5] Hellriegel, Ludwig (Hrsg.): Widerstehen und Verfolgung in den Pfarreien des Bistums Mainz 1933 – 1945. Bd. I: Rheinhessen, Teil 2: Dekanate Bingen, Gau-Bickelheim, Oppenheim, Worms. Eltville am Rhein 1990, S. 319.
Streit um die Erinnerung
In einem Südwestfunk-Fernsehbeitrag in der Reihe „Blick ins Land“ unter dem Titel „Keine Versöhnung mit Polen“ vom 26. Juni 1975 skizzierte Pfarrer Hellriegel zunächst die Vorgeschichte zur Entstehung des Steines:
„Den Anstoß zu diesem Stein gab ich 1972, als es dreißig Jahre her war, dass man Leon Szczepaniak hier in Elsheim erhängt hatte. Es war bei einem Volkstrauertag und ich schlug vor seinen Namen in das Kriegerdenkmal einzumeißeln. Man hat das dann abgelehnt, aber der Gemeinderat hat einstimmig beschlossen, einen Stein hier auf dem Elsheimer Friedhof für Leon Szczepaniak zu errichten. Es soll ein Zeichen der Versöhnung sein.“[6]
Gestiftet wurde der Gedenkstein von der CDU-Fraktion Stadecken-Elsheim.[7] In der von den Pfadfindern herausgegebenen Dokumentation wurde die Entstehungsgeschichte des Gedenkortes erläutert und auch der Tag der feierlichen Einweihung des Gedenksteines beschrieben. Der Text verdeutlicht, welche Bedeutung die Schaffung eines solchen Gedenkortes hatte und wie besonders die Initiative in dieser Zeit war:
„Am Sonntag, den 8. Juni 1975 wurde in einer Feierstunde dieser Gedenkstein eingeweiht. Der Erste Sekretär der polnischen Botschaft in Köln, Wladyslaw Skrzypczak sagte dabei: „Der Gedanke an Leon Szczepaniak, an den Polen, der für seine rein menschlichen Gefühle zu einer deutschen Frau – Gefühle, die den damaligen Staat nicht gefährdet haben – sein Leben hingeben mußte, erschüttert aufs tiefste.“
Der Pfadfinderstamm Greifenklau erweiterte die Gedenkfeier zu einem deutsch-polnischen Freundschaftstag. Die Bundestagsabgeordneten Brandt [Hugo Brandt, SPD, geb. am 4. August 1930 in Mainz-Mombach, gest. am 12. September 1989 in Grolsheim] und Gerster [Johannes Gerster, CDU, geb. am 2. Januar 1941 in Mainz, gest. am 21. August 2021 ebenda] waren neben zahlreichen Vertretern der Öffentlichkeit zu der Feier auf dem Elsheimer Friedhof, die Verbandsbürgermeister Dr. H-V. Kirschner eröffnete und bei der Pfarrer L. Hellriegel zum Teil in polnisch [sic] die Gedenkrede hielt, erschienen. Die Katholischen Kirchenchöre von Elsheim und Großwinternheim, die Carolus-Magnus-Bläser und ‑Schola gaben der Feier, zu der Ortsbürgermeister F. Holl geladen hatte, einen würdigen Rahmen. Mehrere Zeitungen des In- und Auslandes berichteten von diesem „Zeichen der Versöhnung“, das damit in Elsheim gesetzt worden war.“
Ein Artikel vom 29. Juni 1975 mit dem Titel „Deutsch-polnischer Tag“ aus Glaube und Leben. Kirchenzeitung für das Bistum Mainz, der im Kirchenarchiv der Pfarrei Schwabenheim aufbewahrt wird, nannte noch weitere bemerkenswerte Details zur Gedenkfeier; so war das „polnische Lied: Posratai Boze [Pośrataj Boże, dt. „Sei gegrüßt, Gott“], das 70 Kinder der Carolus-Magnus-Schola [Kinderchor] sangen“, Teil der Veranstaltung.[8] Hierbei handelt es sich um ein traditionelles Volkslied, das bei Hochzeiten in der Lubliner Gegend gesungen wurde.[9] Berichtet wurde im Artikel auch von einem anschließenden gemeinsamen Essen, bei dem der polnische Botschaftsvertreter Władysław Skrzypczak „die Möglichkeiten, die für zukünftige Jugendbegegnungen vorgesehen sind“[10], erläuterte und die Initiative zur Aufarbeitung der NS-Arbeit damit Raum für eine Annäherung beider Völker schuf. Im Geiste der Versöhnung lautete das im Artikel gezogene Fazit: „Ein guter Sonntag, der das Thema des Heiligen Jahres 1975 ‚Versöhnung‘ konkret werden ließ. Neuanfang einer neuen Generation, der weit über die lokalen Grenzen hinaus Beachtung verdient.“[11]
[6] SWF-1-Rheinland-Pfalz-Beitrag von Gemmecke, Rudolf in der Reihe „Blick ins Land“ mit dem Titel „Keine Versöhnung mit Polen“ ausgestrahlt am 26.6.1975.
[7] Puvogel, Ulrike; Stankowski, Martin u.a. (Hrsg.): Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus. Eine Dokumentation. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage, Bd. I, Bonn 1995, S. 690.
[8] Deutsch-polnischer Tag, in: [Glaube und Leben. Kirchenzeitung für das Bistum Mainz] vom 29.6.1975.
[9] Kolberg, Oskar: Lud. Jego zwyczaje, sposób życia, mowa, podania, przysłowia, obrzędy, gusła, zabawy, pieśni, muzyka i tańce. Serya XVI. Lubelskie. Część pierwsza. Kraków 1883 [Das Volk. Seine Sitten, Lebensweise, Sprache, Sagen, Sprichwörter, Bräuche, Zauberei, Spiele, Lieder, Musik und Tänze. Serie XVI. Lubliner Gebiet. Erster Teil. Krakau 1883], S. 188.
[10] Deutsch-polnischer Tag (29.6.1975).
[11] Ebd.
Wenn auch der Gemeinderat von Stadecken-Elsheim zuvor ein klares politisches Zeichen zur Schaffung eines Erinnerungsortes für Szczepaniak gesetzt hatte, so spiegelte dieser politische Wille die Einstellung der Ortsbevölkerung im Zeitraum der Entstehung des Gedenkortes nur in Teilen wider. Im bereits erwähnten Fernsehbeitrag vom Juni 1975 wurde diese deutlich durch die Äußerungen einiger Befragten aus der örtlichen Bevölkerung, so bezogen zwei „Zeitzeugen“ gegen die Setzung eines Gedenksteines Position. Ein Mann relativierte dabei die deutsche Schuld und sah zugleich in der Aufstellung eines Steines eine Provokation, sowohl für die deutsche als auch für die polnische Seite:
„- Einseitig ist die Sache. Weil wie gesagt ich doch die Sache kenne. Es sind sehr viele Morde in Polen geschehen an deutschen Leuten […] Hüben und Drüben sage ich mir, dass das ungünstig ist. Man würde so was ruhen lassen.
- [Interviewer:] Warum?
- Ja, warum? Es erregt die Gemüter wieder.“[12]
Ein zweiter Befragter relativierte die Tat an sich: „Ich habe so viel mitgemacht und so viel gesehen. Und da hätte man können bald jedem einen Gedenkstein setzen.“[13] Auch eine Elsheimer Gaststätte „lehnte es ab ihren Saal für ein Versöhnungsfest mit Polen zur Verfügung zu stellen. Die Stammgäste solidarisieren sich mit ihrem Wirt“, wie es im Beitrag weiter hieß. Sie äußerten sich unter anderem wie folgt: „Ich bin der Meinung, in Polen sind vielleicht deutsche Soldaten auf die gleiche Weise hingerichtet worden und die kriegen auch keinen Stein gesetzt.“[14] Auch der damalige erste Beigeordnete des Ortes Heinz Horn versuchte in einem Interview die Ermordung Szczepaniaks als rechtmäßig hinzustellen. Dabei berief er sich auf die verbrecherischen NS-Erlasse und konstruiert zudem das völlig irreführende Bild einer egalitären und konsequenten Strafverfolgung auf Grundlage der damaligen Gesetzeslage:
„[M]eines Erachtens nach hat dieser Pole gegen das bestehende Gesetz verstoßen und es war ihm bekannt, dass wenn er sich mit einer Deutschen abgibt, dass ihm die Todesstrafe droht, so wie es uns als Soldaten bekannt war, dass wir als Plünderer erschossen werden, wobei ich selbst einmal bei einer Exekution dabei war.“[15]
Der Sprecher des Beitrags ergänzte dann:
„Die Erfahrung der eigenen Soldatenzeit ist das offizielle Argument in Elsheim, aber sobald Kamera und Tonband abgestellt sind, kommen plötzliche neue Töne in die Argumentation. Da werden die, wie man sagt, die Polacken als Menschen abgelehnt, da rechtfertigt man indirekt das Nazi-Regime, das 1932 schon von 67% der Elsheimer Bürger herbeigesehnt wurde, da droht man dem Pfarrer mit Gegenmaßnahmen.“[16]
Allerdings kam in der Sendung neben Pfarrer Hellriegel auch eine Elsheimer Angehörige eines politisch verfolgten deutschen NS-Opfers zu Wort, und als Kontrapunkt zu den Äußerungen der Zeitzeugen, der Stammtischbesucher und des ersten Beigeordneten wurde über die Elsheimer Pfadfindergruppe und deren ebenfalls im Jahr 1975 geplanten Polenfahrt im Geiste der Versöhnung berichtet. Die Pfadfinder hatten bereits zu diesem Zeitpunkt das Ziel, eine Dokumentation zu erstellen, um über die deutschen Verbrechen in Polen aufzuklären.[17] Auch in der Lokalpresse wurde eine Rechtfertigung des Verbrechens an Leon Szczepaniak nicht akzeptiert:
„Oft wurde dieses Verbrechen mit dem Hinweis entschuldigt, es sei ja damals Gesetz gewesen, daß Polen mit Deutschen keine Beziehungen unterhalten durften. Dann muß man sich aber auch die Frage stellen, ist Gesetz auch immer Recht? Die Vergangenheit und sogar verschiedene Machtverhältnisse in unserer heutigen Welt belehrten uns belehren uns eigentlich eines Besseren.
Doch das Ziel des um Versöhnung werbenden Gemeindebeschlusses ist nicht nur Bewältigung der Vergangenheit, sondern vor allem Blick in die Zukunft. Es soll darum gerungen werden, daß zum polnischen Volk ein ähnlich freundschaftliches Verhältnis entsteht, wie es zum Beispiel mit unserem französischen Nachbarvolk schon gewachsen ist.“[18]
[12] SWF-1-Rheinland-Pfalz-Beitrag (26.6.1975).
[13] Ebd.
[14] Ebd.
[15] Ebd.
[16] Ebd.
[17] Ebd.
[18] Allgemeine Zeitung vom 8.6.1975.
Ein zweiter Fernsehbeitrag, der am 22. Januar 1976 gesendet wurde, nahm sich des Themas ebenfalls noch einmal an; darin wurde das Bild eines in zwei Lager geteilten Dorfes gezeichnet, wobei die eine Seite sich weiterhin gegen den Gedenkstein für Leon Szczepaniak positionierte; der erste Beigeordnete Horn allerdings, der im vorangehenden Beitrag als Gegner des Gedenkens in Erscheinung getreten war, bekräftigte nun jedoch sein generelles Einverständnis zur Setzung eines Steines. Seine Kritik wollte er vor allem auf den Standort bezogen verstanden wissen.[19] Anschließend erläuterte noch einer der Pfadfinder den empfundenen Erfolg der im Jahr 1975 durchgeführten Polenfahrt:
„[D]as Allerpositivste daran ist, dass wir jetzt zu Hause hier in Elsheim bei unseren Jugendlichen – wir haben … bei uns sind 120 Pfadfinder, die wir haben ungefähr … doch jetzt erreicht, dass ein ganz anderes Bild von Polen und speziell von polnischen Jugendlichen gezeigt wird und der schönste Erfolg ist vielleicht, dass man also dieses negative Wort Polack, mit dem man doch hier so vorher alles abgetan hat, dass das praktisch ausgelöscht ist, es verschwunden ist, ich würde sagen, das war doch wirklich ein ganz großer Erfolg.“[20]
Die eigentliche Versöhnungsfahrt wurde von den Pfadfindern denn auch als Höhepunkt erinnert. Zwölf Jugendleiter des Stammes Greifenklau und Pfarrer Hellriegel hatten sich am 18. Juli 1975 nach Polen aufgemacht; sie fuhren in den folgenden Tagen über Görlitz nach Breslau (Wrocław), wurden im schlesischen Peiskretscham (Pyskowice) von katholischen Schwestern beherbergt, reisten unter anderem weiter bis nach Krakau und erreichten am Dienstag, 22. Juli, Neu Sandez (Nowy Sącz). Dort trafen sie Edward Noga, einen früheren polnischen Zwangsarbeiter, der während des Krieges ebenfalls in Elsheim hatte arbeiten müssen, der dort mit seiner Familie, darunter auch seine aus Mannheim stammende deutsche Ehefrau, lebte. Zu den weiteren Zielen auf der Fahrt gehörte etwa der Erholungsort Zakopane, aber auch das deutsche Vernichtungslager Auschwitz; von einem Besuch der Schwester des verstorbenen Szczepaniak in Lodz hatte man allerdings Abstand genommen:
„Herr Noga hat inzwischen in unserem Auftrag Frau Kowalska, die Schwester Leons besucht. Brieflich hat uns Frau Kowalska […] gedankt für die Ehrung ihres Bruders. Sie hatte in 30 Jahren nicht mehr gewußt, als daß er tot ist. Alle näheren Umstände erfuhr sie erst jetzt. Verständlich, daß sie darüber sehr betrübt war.“
Am 27. Juli 1975 traf die Gruppe, die noch unter dem schweren Eindruck des Besuches in Auschwitz am Ende der Reise stand, wieder in Elsheim ein.
[19] SWF-1-Rheinland-Pfalz-Beitrag von Schächter in der Reihe „Blick ins Land“ mit dem Titel „Vertagte Versöhnung“, ausgestrahlt am 22.1.1976.
[20] Ebd.
Versöhnung und Freundschaft mit Polen
Ein Dankgottesdienst nach der Rückkehr schloss die Reise ab, die der Beginn für bis heute existierende Kontakte und Freundschaften von Gemeindemitgliedern und Polen war: „Es wurde uns klar, daß wir […] eine wichtige Sache begonnen hatten. Unserem Ziel, ein herzliches, unbefangenes Verhältnis zum polnischen Volk zu finden und zwar an der Basis, wie wir es schon seit Jahren zu Frankreich haben, sind wir sicherlich ein Stück nähergekommen.“ Zu den damaligen Leitern des Stammes Greifenklau gehörte auch das Ehepaar Elfriede und Hans Reiser.[21] Sie sollten über Jahrzehnte intensive freundschaftliche Kontakte mit Polen pflegen und sich auch in den 1980er Jahren an der „Polen-Hilfe“ aktiv beteiligen. Elfriede Reiser pflegt bis heute den Gedenkstein und lässt der ehemaligen polnischen Zwangsarbeiter:innen in Elsheim zur Messe gedenken.[22]
Noch im selben Jahr der Polen-Fahrt erhielten erste Besucherinnen und Besucher aus Polen ein Visum und konnten in Stadecken-Elsheim empfangen werden. Ein neues Bewusstsein für die eigene Verantwortung als Deutsche hatte eine Tür zur Versöhnung geöffnet:
„Es bleibt zu hoffen, daß so Schritt für Schritt alte, schiefe Vorurteile abgebaut werden, daß auch gelernt wird, mit der Geschichte zu leben. […] Es wäre falsch darauf zu hoffen, daß wir die Vergangenheit bewältigen können, um sie dann gewissermaßen zu den Akten zu legen: Wir haben mit der Vergangenheit und eben nicht nur der großartigen, sondern auch der bedrückenden und verbrecherischen zu leben. So werden wir lernen können. Wir – die junge Generation – will aus der Geschichte lernen, wie man in Frieden leben kann. Wichtigste, befreiende Erkenntnis [sic] für uns dabei ist, daß an der Wurzel von Haß, Völkermord und Krieg die eigene, den Menschenbruder verachtende Überheblichkeit steht. Diese, um Jesu Froher Botschaft willen, mit allen Menschen guten Willens zu überwinden helfen, ist unsere Absicht.“
Der 80. Jahrestag der Ermordung Leon Szczepaniaks
37 Jahre nach der Einweihung des Steines und zum Anlass des 80. Jahrestages der Ermordung Szczepaniaks versammelte man sich am 25. Mai 2022 auf Initiative der Ortsgemeinde Stadecken-Elsheim zu einer „Gedenkveranstaltung zum 80. Jahrestag der Ermordung des polnischen Zwangsarbeiters LEON SZCZEPANIAK“[23]. Ortsbürgermeister Thomas Barth eröffnete die feierliche Veranstaltung mit einer Ansprache, in der er um Vergebung für das während der NS-Zeit begangene Verbrechen bat.[24] Unter den geladenen Gästen fand sich auch die Vizekonsulin des Generalkonsulats der Republik Polen in Köln, Anita Mikołajczak, die zum Abschluss der Veranstaltung gemeinsam mit dem Ortsbürgermeister zur Kranzniederlegung am Gedenkstein schritt. Musikalisch begleitet wurde das Gedenken von den Carolus Magnus Ingelheimer Kaiserpfalz Bläsern, von denen u. a. „Ich bete an die Macht der Liebe“ des ukrainischen Komponisten Dmitrij Stepanowitsch Bortnjanskij (ukr. Dmytro Stepanovyč Bortnjansʹkyj, 1751–1825) zu hören war. Durch die Auswahl der Musik wurde eine inhaltliche Verbindung zum russischen Überfall auf die Ukraine hergestellt, die sich auch in den Wortbeiträgen wiederfand. Für die geladenen Gäste stand auch im Anschluss an die Gedenkveranstaltung das gemeinsame Abendessen in Elsheim, wie bereits am 29. Juni 1975, im Zeichen der Versöhnung und im Bewusstsein, dass Deutsche und Polinnen und Polen die Erinnerung an Leon Szczepaniak nicht mehr spaltet, sondern, dass sie sie gemeinsam teilen. Wichtig wäre es allerdings auch Margarete Hess‘ Leidensgeschichte zu gedenken.
Christof Schimsheimer, Juni 2022
[21] DPSG-Stamm Greifenklau war sehr aktiv. Fazit des Jahres 1975 / Jetzt Schwerpunktthema „Kultur in der Gruppe“ in: Allgemeine Zeitung vom 30.12.1975.
[22] https://bistummainz.de/export/sites/bistum/pfarrei/schwabenheim/.galleries/gottesdienstordnung/Bartholomaeusblatt.pdf
[23] Aus dem Programm der Gedenkveranstaltung für den 25.5.2022.
[24] https://www.stadecken-elsheim.de/aktuelles/einzelansicht/gedenkveranstaltung-fuer-leon-szczepaniak/ (abgerufen am 23.5.2022)