Von Multikulti zu COSMO
„Montag, 19. September 1994. Es ist 19:20 Uhr. Nach zweieinhalb Jahren Funkstille im Berliner Äther freue ich mich, die polnischsprachigen Hörer auf 106,8 MHz und im Kabel begrüßen zu dürfen.“ Mit diesen Worten eröffnete Witold Kamiński die erste Sendung in polnischer Sprache des neugegründeten Radiosenders „SFB 4 MultiKulti“ in Berlin. Das war ein historischer Moment für zugewanderte Menschen in Deutschland. „Es ist das erste Mal, dass eine öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt ein mehrsprachiges Programm anbietet, das täglich im Radio und Kabel ausgestrahlt wird“, erklärte die Stimme im Radio. Auch für die Pol:innen in Berlin war es ein historischer Moment, weil sie zum ersten Mal polnisches Radio in den öffentlichen Medien zu hören bekamen. Der Errichtung des multikulturellen Radiosenders gingen jahrelange Bemühungen der alternativen Szene in West-Berlin voraus.
Als in den 1980er Jahren fast eine Million Menschen aus Polen nach Deutschland kamen, entstand unvorhergesehen eine neue Gruppe von Migrant:innen. Die BRD war darauf nicht vorbereitet und es mangelte an Informationen in polnischer Sprache. Die Pol:innen wurden u.a. vom Polnischen Sozialrat (Polska Rada Społeczna) in Berlin unterstützt. Dank der Bemühungen dieser Einrichtung ergab sich die Möglichkeit, ein Hörprogramm für Pol:innen im privaten Radiosender „Radio 100“ in Berlin zu organisieren. Die kollegiale Leitung des alternativen Radiosenders, der unter anderem populäre Programme für die Opposition in der DDR, Feministinnen und LGBT-Communities ausstrahlte, beschloss, auch Programme in den Muttersprachen der Zugewanderten zu senden: auf Polnisch, Griechisch, Kurdisch, Türkisch und Arabisch.
Das Programm von „Radio 100 po polsku“ begann am 3. September 1989. „Die Idee war, einen Radiosender für Menschen zu schaffen, die Schwierigkeiten haben, sich in Berlin zurechtzufinden. Es sollte ein Sender sein, der nicht von Journalisten, sondern von Laien gestaltet wird, von Menschen, die sich in derselben Situation wie die Zuhörer befinden“, erinnert sich Witold Kamiński vom Polnischen Sozialrat. Die einstündige Sendung auf Polnisch wurde einmal pro Woche ausgestrahlt und hatte in erster Linie einen informativen Charakter. Das Redaktionsteam setzte sich aus jungen und engagierten aus Polen stammenden Menschen zusammen, die unter anderem mit dem Polnischen Sozialrat und dem einige Jahre später gegründeten Club der polnischen Versager verbunden waren. Das Projekt dauerte zwei Jahre, mit einer Beteiligung von rund 100 Personen.
1991 meldete „Radio 100“ Konkurs an. Die Ausschreibung für die 103,4-MHz-Frequenz gewann die französische Radiogruppe NRJ. Einige Monate lang wurden noch fremdsprachige Sendungen vom kommerziellen Sender „Radio Viva Berlin / Energy“ ausgestrahlt, nach Ablauf des Vertrags verschwanden die Sendungen für Zuwander:innen aber aus dem Programm. Die Tatsache, dass „Radio 100“ ins Leben gerufen werden konnte, bewies, dass Minderheiten ein Medienprodukt für ein breites Publikum mit messbarer Hörerschaft kreieren können. Dies gab den Beteiligten aus Polen, der Türkei, den arabischen Ländern, Vietnam und Griechenland einen Impuls zur Zusammenarbeit. Sie gründeten den Verein „Intermedia e.V.“ und begannen sich um einen festen Platz innerhalb der Hörprogramme der deutschen öffentlich-rechtlichen Sender zu bemühen.
Anfang der 1990er Jahre stieg die Zahl der Flüchtlinge, die in Deutschland Asyl beantragten. In der Folge nahmen auch fremdenfeindliche Tendenzen zu. In den Jahren 1991–93 brannten Asylheime in Hoyerswerda, Rostock und Solingen. Die Atmosphäre war angespannt, die Zahl der Ausländer:innen in Deutschland wurde auf über 10 Millionen geschätzt. Nach jahrelangen Verhandlungen gelang es schließlich die Berliner Politik von der Idee eines Radiosenders für Zugewanderte zu überzeugen. Das Landesmediengesetz erhielt einen Paragrafen, der den Sender Freies Berlin (SFB) verpflichtete, Hörprogramme in den Sprachen der lokalen Minderheiten auszustrahlen. Die Entstehung der ersten „Welle“ dieser Art in den öffentlich-rechtlichen Medien war für die Einwander:innen ein Zeichen, dass sie in der deutschen Öffentlichkeit wahrgenommen werden, ihre Muttersprache benutzen dürfen und ihre kulturelle Andersartigkeit respektiert wird.