Todesstrafe für eine Liebe in Freren. Auf der Suche nach Bolesław Wernicki (1914–1942)

Die Lichtung auf dem Gallenberg, wo Bolesław Wernicki 1942 erhängt wurde. Allerdings muss es seitdem mal einen Kahlschlag gegeben haben. / Anton Wiechmann 2022
Die Lichtung auf dem Gallenberg, wo Bolesław Wernicki 1942 erhängt wurde. Allerdings muss es seitdem mal einen Kahlschlag gegeben haben.

In dem kleinen Ort Andervenne mit rund 1.000 Einwohnern spricht man nicht gern über die Vorgänge aus dem Jahr 1942. Am liebsten würde man sie geheim halten. Nein, die Sache solle man ruhen lassen, sagt der Bürgermeister noch im Januar 2022, als ich mit dem Verfassen einer kleinen Schrift (s.u.) beginnen will, es gebe da noch verwandtschaftlich betroffene Personen, die in diese Sache involviert seien.

Etwa seit 1975 kenne ich die Geschichte von dem Galgentod in Andervenne. An Theke und Stammtisch, bei Kaffeekränzchen und Kegelabend kam sie mitunter zur Sprache: „In Andervenne auf dem Galgenberg ist zu Kriegszeiten jemand erhängt worden.“ Von denen, die die Örtlichkeit kannten, wurde dann lediglich die lokale Bezeichnung korrigiert: Nicht „Galgenberg“ hieße das, sondern „Gallenberg“.[1] „Ein Pole, der was mit einer deutschen Frau gehabt hat…“, kam dann hinter der hohlen Hand hervor. Aber das war es dann, Genaues wusste niemand, und schon bald war ein anderes Thema dran.

Als ich dann zu Ruhestandszeiten auf die Heimatforschung kam und das Onlinearchiv des Internationalen Suchdiensts (International Tracing Service, ITS) in Bad Arolsen (heute: Arolsen Archives – International Center on Nazi Persecution) kennenlernte, bin ich ganz schnell auch auf den Namen Bolesław Wernicki, den Hingerichteten, und viele andere Namen osteuropäischer Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen in der Umgebung von Freren und dem südlichen Emsland gestoßen. Mit der Kenntnis dieses Namens kam ich auch über das Archivinformationssystem Arcinsys beim Niedersächsischen Landesarchiv weiter. 

„Was sagt dir der Name Bolesław Wernicki?“, fragte ich jeden, von dem ich wusste, dass er Verbindungen zu dem Ort Andervenne hat. Niemand der Befragten kannte diesen Namen.

 

Hinrichtung als polizeilicher Verwaltungsakt ohne Gerichtsurteil
 

Geboren wurde Bolesław Wernicki am 14. Mai 1914 in Lendo (heute: Woiwodschaft Lublin, Polen). Hingerichtet wurde er „durch den Strang“ am 10. Juli 1942 auf dem Gallenberg in Freren/Andervenne. 

Welchen Vergehens hatte Bolesław Wernicki sich schuldig gemacht? Dazu gibt es eine Karteikarte der Gestapo, die am 14. Januar 1942 angelegt wurde. Eine erste Eintragung lautet:

„W. hatte mit der Landwirtschaftsgehilfin Surmann im März 1941 geschlechtlich verkehrt und diese geschwängert. Dem Inspekteur der Si-Po und S.D. ist Bericht erstattet. Die ärztliche Untersuchung des W. ergab, dass er den Anforderungen einer Eindeutschung entspricht.“[2]

Stimmt, geschwängert worden ist die Frau. Aber nicht von einem möglichen Verkehr im März 1941. Denn entbunden hat sie erst am 4. März 1942, etwa ein Jahr nach der angezeigten Tat. So sagen es öffentlich zugängliche Quellen aus Geburts- und Todesmitteilungen.

Am 11. Mai 1942 erfolgt ein weiterer Eintrag in die Gestapo-Akte: 

„Gegen W. wurde Schutzhaft beantragt und ihm am 1.5.42 der Schutzhaftbefehl ausgehändigt.“[3]

Eine weitere Eintragung am 28. August 1942:

„W. wurde am 10.7.42 auf Befehl des Reichsführers-SS in einem Waldstück bei Andervenne erhängt.“[4]

Ein Vierteljahrhundert später, in den Jahren 1967/68, geht der Staatsanwalt Wächter, dessen Vorname aus den Akten nicht hervorgeht, beim Landgericht Osnabrück dieser Sache im Sinne des bunddeutschen Rechtsstaates nach. Zunächst trifft er folgende Feststellung zum Hintergrund der Hinrichtung: 

„[…] Wernicki wurde von dem inzwischen verstorbenen Vater der geschwängerten Surmann beim Polizeiposten Freren zur Anzeige gebracht mit der offenbar falschen Behauptung, seine Tochter sei von dem Polen vergewaltigt worden.“[5]

Seine Ermittlungen beziehen sich nicht nur auf den Fall Wernicki. Es geht um weitere Fälle sogenannter „Sonderbehandlung“. Damit sind Hinrichtungen ohne Gerichtsurteil gemeint. Sie lagen ausschließlich in der Vollzugshoheit der Polizei. Wächter ermittelt gegen zehn Angehörige der „Stapostelle Osnabrück“, die örtliche Niederlassung der Gestapo. Wer von ihnen ist zum Einsatz gekommen? In seiner abschließenden Verfügung fasst der Staatsanwalt am 3. Dezember 1968 die Rechtslage, wie sie unter den Bedingungen des NS-Staates zu beachten waren, auf neun DIN-A4-Seiten zusammen. Ein markanter Satz dabei war den Zwangsarbeitern vor Beginn ihres Einsatzes an der Arbeitsstelle auf einem umfänglichen Merkblatt mitzuteilen:

„Wer mit einer deutschen Frau oder einem deutschen Mann geschlechtlich verkehrt oder sich ihnen sonst unsittlich nähert, wird mit dem Tode bestraft.“[6]

Ein besonderes Augenmerk wurde dabei auf Polen und Angehörige anderer osteuropäischer Nationen gelegt:

„Der Reichsführer-SS hat mit Reichsjustizminister Thierack vereinbart, dass die Justiz auf die Durchführung ordentlicher Strafverfahren gegen Polen und Angehörige der Ostvölker verzichtet. Diese fremdvölkischen Personen sollen zukünftig der Polizei abgegeben werden. […]
Polen und Angehörige der Ostvölker sind fremdvölkische und rassisch minderwertige Menschen, die im deutschen Reichsgebiet leben. Hieraus ergeben sich für die deutsche Volksordnung erhebliche Gefahrenmomente, die zwangsläufig dazu führen, die Fremdvölkischen einem anderen Strafrecht zu unterstellen als deutsche Menschen. […] die Tat eines Fremdvölkischen ist nicht unter dem Gesichtswinkel der justizmäßigen Sühne, sondern unter dem Gesichtswinkel der polizeilichen Gefahrenabwehr zu sehen. 
Hieraus ergibt sich, dass die Strafrechtspflege gegen Fremdvölkische aus den Händen der Justiz in die Hände der Polizei übergeführt werden muss.“[7]

Damit wurde die Verhängung der Todesstrafe dem richterlichen Für und Wider entzogen und in die Hoheit der Polizei gegeben, also wird sie zu einem reinen Verwaltungsakt.

 

[1] Von der Örtlichkeit auf dem Gallenberg gibt es kein Zeichen der Erinnerung oder des Gedenkens.

[2] NLA OS Rep 439 Nr. 46230 Aufn. 001.

[3] Ebd.

[4] NLA OS Rep 439 Nr. 46230 Aufn. 002.

[5] Verfügung, S. 13 in: NLA Os., Rep 945, Akz. 2001/054 Nr 40, Blatt 361. 

[6] Verfügung, Wächter, in: NLA-OS, Rep. 945 Akz. 2001/054 Nr. 40, Blatt 352.

[7] Ebd., Blätter 353–354.

Mediathek
  • Das sog. „Kriegerdenkmal“ in Andervenne

    Wer nahe herangeht, erkennt die in Stein gemeißelte Inschrift: „Den tapferen Kriegern, die dankbare Gemeinde Andervenne“. An Bolesław Wernicki erinnert nichts…
  • Information über Bolesławs Arbeitgeber

    Ohne Datum
  • Sterbeurkunde von Bolesław Wernicki

    Ausgestellt durch den Standesbeamten in Andervenne am 5. Mai 1946
  • Auszug aus einer Gräberliste des Landkreis Lingen, Gemeinde Andervenne

    Ohne Datum
  • Informationsschreiben für den Internationalen Suchdienst ITS durch den Polizei-Posten Freren, ca. 1949

    Zu Vornamen, Todesdatum und Alter werden falsche Angaben gemacht, der Verbleib der Leiche war nicht recherchierbar, aber den Hinrichtungsgrund glaubt man zu kennen. Man beachte die Informationsquelle!
  • Auf Befehl des Reichsführers SS erhängt: Bolesław Wernicki, Hamburg 2022

    Buchcover (vorne)
  • Auf Befehl des Reichsführers SS erhängt: Bolesław Wernicki, Hamburg 2022

    Buchcover (hinten)