„Myśliwska“ Berlin
Berlin, Freitag, 9. August 1996. Janek Warski, ein polnischer Migrant, will mit ein paar Freunden das beginnende Wochenende feiern. Wie viele Polen damals, lebt Janek Warski in Berlin Kreuzberg am Rande des alten West-Berlins, wo außer Migranten, Flüchtlingen, Studenten und Künstlern, sonst niemand wohnen will. An diesem Abend besucht er seine Freunde in der Kirchstraße 4 in Berlin Wedding. Drei polnische Straßenmusiker leben in der dunklen Wohnung im Hinterhaus. Sie sitzen lange zusammen, erzählen sich von Polen und Berlin, von Vergangenheit und Zukunft. Erst spät in der Nacht, fast schon im Morgengrauen, fährt Janek nach Hause zurück. Sein Heimweg in die Taborstraße führt vom U-Bahnhof Schlesisches Tor weiter zu Fuß über die Schlesische Straße. In dieser Straße hält er kurz vor der Nummer 35, magisch angezogen von dem Namen einer Bar: „Myśliwska“. Er sieht das Schild zum ersten Mal und geht sofort hinein für ein letztes Bier der Nacht. Als er an der Bar ein Getränk bestellt, schenkt der Barkeeper ihm polnisches Bier ein und im Hintergrund läuft der polnische Hit „Nigdy więcej“ von Piotr Szczepanik. Janek Warski blickt aus dem Fenster der kleinen Kreuzberger Bar und denkt über sein polnisches Berlin nach. Es sind eben manchmal die kleinen Sachen, die uns an das Große denken lassen. Klein ist „Myśliwska“ ja. Zwei Räume, eine hölzerne Bar mit einer goldenen Theke. Die Wände im dunklen Grün gestrichen und mit sichtbaren Gebrauchsspuren. Alles kunstvoll als Jägerstube, als „Myśliwska“ eben, dekoriert.
„Myśliwska“ wurde am 1. Dezember 1990 feierlich eröffnet. Der Initiator und Betreiber war der polnische Künstler Witold „Witek“ Marcinkiewicz, der schon seit Jahren in Berlin lebte und mit „Myśliwska“ seinen lang gehegten Wunsch verwirklichte. Er fand die Räume in Berlin Kreuzberg, in denen zuvor ein Restaurant war. Die Eröffnung im Dezember 1990 war ein großer Erfolg, auch weil es bis dahin keinen vergleichbaren Ort gab, mit dem sich die Polen in Berlin so identifizieren konnten. Schnell wurde „Myśliwska“ zu einem Treffpunkt für polnische Künstler in Berlin, aber auch zu einem gemeinsamen Ort für die Künstler der Nachbarschaft, für die Studenten und Aussteiger. Neben dem polnischen Betreiber, dem polnischen Bier und der polnischen Musik, sorgten besonders die Donnerstage für polnische Atmosphäre. Jahrelang gab es an jedem Donnerstag polnischen Maultaschen, Pierogi, von „Pani Ewa“. Frau Ewa war die gute Seele der Bar und hatte stets ein offenes Ohr für all diese Gestalten, die sich im „Myśliwska“ trafen. Nach über zehn Jahren hörte Witold Marcinkiewicz im „Myśliwska“ auf. Es waren gesundheitliche Gründe, die ihn am Weitermachen hinderten. Doch der Geist des „Myśliwska“ lebte weiter und lebt bis heute. Auch dank des Barkeepers, der von Anfang an dabei war - Tom Neubauer, ein Berliner Fotokünstler.
Heute, nach über zwei Jahrzehnten seit der Gründung der Bar „Myśliwska“, ist die Kneipe nach wie vor ein wichtiger Treffpunkt für die Kreuzberger Künstler, für die Nachbarn, für das gemeine Ausgehvolk und für die ewig nach dem „echten Berlin“ suchenden Touristen.
Und mindestens ein Mal im Jahr verwandelt sich das „Myśliwska“ in die kleine, neue und noch unbekannte Kneipe von 1990. Jedes Jahr feiern die Betreiber des „Myśliwska“ am 1. Dezember ein rauschendes Fest und erinnern an die Anfänge, an das polnische Berlin und an die Idee von Witold „Witek“ Marcinkiewicz.
Adam Gusowski, Januar 2016