Der erste Kongress der Polen in Deutschland 1938

Bühnenbild des Kongresses
Bühnenbild des Kongresses (Theather des Volkes)

In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre verschlechterte sich die Lage der Polen in Deutschland bedeutend. Die NS-Machthaber beschränkten die unterschiedlichen Tätigkeitsbereiche der polnischen Minderheit in Bildung, Kultur, Gesellschaft und Wirtschaft. Die deutsch-polnische Minderheitendeklaration vom November 1937, die nur allgemeine Formulierungen beinhaltete, brachte keine positiven Veränderungen. Unter diesen Bedingungen beschloss der „Bund der Polen in Deutschland“ (die Dachorganisation unterschiedlicher polnischer Organisationen) einen großen Kongress in Deutschland zu organisieren, auf dem die Rechte der Polen besser manifestiert und artikuliert werden sollten. Der Anlass war der 15. Jahrestag des Bestehens des „Bundes der Polen in Deutschland“. Der Zentralrat des Bundes kam im Dezember 1937 zusammen und beschloss den Kongress der Polen in Berlin Anfang März 1938 zu organisieren.

Als Ort des Kongresses wurde anfänglich Breslau (Wrocław) erwogen, diese Idee wurde aber sehr schnell verworfen. Im Januar und Februar 1938 fanden die Vorbereitungstreffen in allen Teilverbänden statt. Der Jahrestag und der Kongress sollten nach Vorstellung der Organisatoren großes Aufsehen hervorrufen, damit die NS-Behörden den „Bund der Polen“ nicht auflösen konnten bzw. seine Auflösung mit großem Aufwand verbunden wäre. Die Organisation des Treffens verlangte vom Bund juristische Anstrengungen. Alle Anträge an die Machthaber auf Versammlungsräume, Sammelfahrten, Volksabende und Konzerte wurden vom Rechtsbüro des Bundes vorbereitet. Der Kongress sollte im zweitgrößten Saal Berlins, im Theater des Volkes in der unmittelbaren Nähe der Friedrichsstraße (genaue Anschrift: Am Zirkus 1), stattfinden. Das Theater hatte ca. fünftausend Plätze. Es wurden Verträge mit der Reichsbahn über Sonderzüge, mit Buslinien, mit Hotels und Übernachtungsheimen und schließlich mit Restaurants und Cafés geschlossen. Die Organisation des Kongresses stellte eine große logistische Herausforderung dar. Ein Organisationsbüro wurde gegründet, das sich aus den Mitarbeitern der Zentrale und der Pressezentrale des Bundes zusammensetzte. Zu den Aufgaben der letztgenannten gehörte der Druck der Teilnehmerkarten, Eintrittskarten, Armbändchen, Fähnchen mit dem Rodło-Zeichen (dem Symbol des Bundes) und sogar Kofferaufkleber. An Briefmarken und Ansichtskarten wurde auch gedacht.

Der Kongress fand am Sonntag, den 6. März 1938 statt und war eine der größten Manifestationen der Polen in Deutschland. Nach Berlin zogen – oft in Trachten – Polen aus dem Oppelner Schlesien, dem Kreis Bomst, der Kaschubei, dem Ermland, dem Marienburger Land, der Gebiete an der Elbe, aus Westfalen und dem Rheinland. Es kamen auch Delegierte der polnischen Organisationen aus Frankreich, der Tschechoslowakei, den USA, Rumänien und anderen Ländern sowie die Vertreter anderer nationaler Minderheiten in Deutschland. Jeder Teilnehmer übernahm  selbst die Fahrt-, Übernachtungs- und Verpflegungskosten. Der Sonntag war ein Sonnentag, auf den Straßen Berlins waren die weiß-roten Farben zu sehen. Bald gab es im Theater des Volkes keine Plätze mehr. Der Kongress wurde am Mittag eröffnet. In der Mitte der Bühne stand das übergroße Rodło-Zeichen, auf der linken Seite die Muttergotteskapelle (sie wurde im Anschluss an den Kongress nach Zakrzów / Sakrau gebracht). Auf der rechten Seite stand das Rednerpult und hinter ihm ein Lindenblatt, das Zeichen der polnischen Jugend in Deutschland. Der Kongress wurde durch eine Polonaise eröffnet, die Aleksander Sienkiewicz dirigierte.

Den Eröffnungsvortrag hielt der Präses des „Bundes der Polen in Deutschland“, Pfarrer Dr. Bolesław Domański. Es wurde das Rodło-Lied gesungen. Auf die Bühne kamen später fünf junge Leute, die die fünf Abteilungen des Bundes symbolisierten: Schlesien, Berlin. Elbegebiet, Westfalen und Rheinland, Ostpreußen, Region Bomst, Meseritzer Land und die Kaschubei. Im Eröffnungsvortrag sprach Pfarrer Domański über das Vaterland und die Einheit der polnischen Nation. Später wurden Grußworte des Primas Kardinal August Hlond verlesen. Zu Wort meldeten sich unterschiedliche Personen, wie der Vertreter des „Verbandes der Nationalen Minderheiten in Deutschland“. Den offiziellen Teil schloss die Rede des Generalsekretärs des „Bundes der Polen in Deutschland“, Dr. Jan Kaczmarek, ab. Er widmete seine Aufmerksamkeit der Lage der Polen in Deutschland und dem Kampf um die Achtung der Rechte der polnischen Minderheit in diesem Land. Seine Rede wurde mehrmals von Beifall unterbrochen. Er schloss sie mit den Worten: „Am 6. März 1938 geben wir, die Söhne der polnischen Nation, treue Söhne unter dem Rodło-Zeichen versammelt, auf dem großen Kongress der Polen in Deutschland, feierlich die fünf Wahrheiten der Polen bekannt:

Erste Wahrheit: Wir sind Polen!

Zweite Wahrheit: Der Glaube unserer Väter ist der Glaube unserer Kinder.

Dritte Wahrheit: Ein Pole ist dem anderen Polen ein Bruder!

Vierte Wahrheit: Der Pole dient jeden Tag seinem Volk!

Fünfte Wahrheit: Polen ist unsere Mutter – über die Mutter darf man nichts Schlechtes sagen!“

Diese Sätze wurden zum „Dekalog“ der Polen in Deutschland. In den nächsten Monaten verbreiteten sie alle polnische Radiosender und die Presse. Im Senat der Republik Polen sprach am 9. März 1938 der Senator aus Posen, Witold Jeszke, wie folgt: „Der Kongress in Deutschland war ein stolzes und würdiges Fest. Auf diesem Kongress wurden die Wahrheiten der Polen feierlich verabschiedet. Von diesen Wahrheiten sollten sich nicht nur die nationalen Minderheiten leiten lassen, wo sie sich auch immer befinden, sondern sie sollten ein Beispiel für alle Polen sein…“.

Der Kongress sollte von einem Berliner Sender, dem Deutschlandsender, mit dem der Polnische Sender (Polskie Radio) einen Vertrag geschlossen hatte, aufgenommen werden. Die Mitarbeiter des Deutschlandsenders kamen erst Mitte des Kongresses. Am nächsten Tag informierten sie die verblüfften Veranstalter, dass aufgrund technischer Probleme mit den Aufnahmegeräten der „Verlauf des Kongresses nicht aufgezeichnet wurde“. Zum Glück hatten die Veranstalter parallel zu der Abmachung mit den Deutschen eigene Aufnahme veranlasst. Die Aufnahmegeräte wurden im Theatersaal geheim installiert. Im Berliner Studio der schwedischen Firma Mix / Goernes haben der Techniker Antoni Brzozowski und der Redakteur Edmund Osmańczyk das Material gesichtet und montiert: eine 30-Minuten-Reportage für den Radiosender und eine 60-Minuten-Dokumentaraufnahme für ein Schallplattenalbum. Eine Woche später wurde das Material gesendet und die Schallplatten in einer Auflage von 500 Exemplaren wurden in Deutschland und im Ausland vertrieben. Die politische Polizei, die Gestapo, war von dieser Aktion völlig überrascht. Nach Ausbruch des Krieges wurden diese Aufnahmen gesucht und von der Gestapo zerstört. Den Krieg überlebten nur zwei Exemplare. Eines dieser Exemplare schenkte der Bruder von Dr. Jan Kaczmarek, Edmund Kaczmarek, dem Historischen Museum in Oppeln (Opole).

Der Kongress stellte die Organisationsfähigkeiten des „Bundes der Polen in Deutschland“ sowie die Mobilisierung und die Einheit seiner Mitglieder unter Beweis. Er belebte die Tätigkeit der Organisation in den Regionen, manifestierte die Lebendigkeit der nationalen Zugehörigkeit der Polen in Deutschland. Obschon die deutschen Machthaber mittelbar die Vorbereitungen zum Kongresse erschwerten und ihre negative Einstellung gegenüber den Polen immer offensichtlicher wurde, konnte die legale Durchführung einer von einer nationalen Minderheit organisierten Großveranstaltung in der deutschen Hauptstadt, von der NS-Regierung als Beweis für ihre angeblich liberale Innenpolitik benutzt werden. Die erhoffte Wirkung des Kongresses weitere Repressalien gegen den „Bund der Polen in Deutschland“ und gegen die polnischen Minderheit im Deutschen Reich zu verhindern, wurde leider - wie die Folgejahre zeigten - nicht erreicht.

 

Krzysztof Ruchniewicz, Juni 2014

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